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Die Schattenwelt

Titel: Die Schattenwelt
Autoren: Tom Becker
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automatische Schiebetür. Es gab dort keinen Empfang und niemand war zu sehen, aber Jonathan lief direkt den nächstgelegenen Gang hinunter. Einmal nach links abbiegen und dann nach rechts … er lief unter einer flackernden Neonröhre durch und umrundete einen Putzmann, der den Boden polierte. Miss Elwood stapfte ihm angestrengt hinterher und versuchte mit ihm Schritt zu halten.
    »Bist du dir sicher, dass das der richtige Weg ist?«, keuchte sie. »Wir müssten doch schon da sein.«
    »Ich bin mir sicher«, antwortete er leise, ohne sich umzudrehen.
    »Natürlich. Es tut mir leid. Aber könnten wir wenigstens ein bisschen langsamer laufen? Meine Beine sind ein klitzekleines bisschen kürzer als deine.«
    Zum ersten Mal an diesem Tag lächelte Jonathan. »Klar, das können wir.«
    Am Ende des Flurs befand sich eine schwere Tür, die wieder ins Freie führte. Sie standen in einem kleinen Innenhof, in dem sich einige Bänke um einen verschnörkelten Holzpavillon gruppierten. In einer Eckemarkierten gelbe Linien auf dem Asphalt eine Ladezone und dahinter, außer Sichtweite, erhob sich ein weiteres, etwas schäbiges Krankenhaus-Gebäude. Die bröckelnden viktorianischen Ziegelmauern waren schmutzig und rußgeschwärzt und die Fensterreihen waren durchgehend vergittert. Das Wasser lief an der Dachrinne herab und bildete einen kleinen See in der Nähe des Eingangs. Es war über ein Jahr her, seit Jonathan das letzte Mal auf das Gebäude geblickt hatte, in dem sein Vater nun lag.
    Miss Elwood sah Jonathan fürsorglich an. »Ich hatte ganz vergessen, wie hässlich es ist.«
    »Hätte ich auch gerne.«
    »Möchtest du, dass ich vorangehe?«
    Er nickte.
    Sie ging zur Tür und öffnete sie. Man hatte den Versuch unternommen, den Empfangsbereich zu modernisieren: Es gab Plastikstühle, Wasserspender und eine Glastrennwand am Tresen. Die drückende Atmosphäre war jedoch geblieben. Drei Personen saßen dort, warteten und blätterten wortlos Zeitschriften durch. Keine von ihnen blickte auf, als Miss Elwood zum Empfangstresen marschierte und die Schwester ansprach.
    »Hallo. Wir wollen zu Alain Starling.«
    Die Schwester schürzte die Lippen und blickte auf ihr Klemmbrett.
    »Ja … Es tut mir leid, aber ich fürchte, dass wir zurzeit keine Besucher in diesen Flügel lassen dürfen. Es gab hier ein paar … Störungen.«
    »Geht es wirklich nicht? Wir haben eine langen Weg hinter uns.«
    »Es tut mir leid. Ich kann nichts für Sie tun.«
    Die Schwester blickte auf und erspähte plötzlich Jonathan durch die Scheibe.
    »Oh, du bist das.«
    »Ich möchte meinen Dad sehen«, erwiderte er.
    Die Schwester hielt inne und wägte die Situation ab. Schließlich gab sie nach.
    »Sie beide können raufgehen, aber höchstens zehn Minuten. Er ist in Zimmer sieben.«
    Der Flur im Obergeschoss war noch kühler und düsterer als die Eingangshalle. Jonathan und Miss Elwood durchquerten einen großen Saal mit einer gewölbten Decke. Die Lichter waren eingeschaltet, aber sie waren zu schwach, um den ganzen Raum zu erleuchten, sodass die Ecken und die Decke im Dunkeln lagen. Die meisten Patienten kauerten in ihren Betten und stöhnten still vor sich hin, während einige in schmutzigen Krankenhaushemden umherwanderten. Ein großer Mann mit einem struppigen, unzähmbaren Bart packte im Vorbeigehen Jonathans Arm und zischte ihm ins Ohr.
    »Er kommt in der Nacht, verstehst du. Wenn ihn niemand sehen kann. Wenn es finster ist. Letze Nacht hat er sich Griffin geholt, aber es hätte jeden von uns treffen können. Du musst uns helfen!«
    Seine Augen füllten sich mit Tränen und seine Stimme klang verzweifelt.
    Jonathan löste sich vorsichtig aus seinem Griff und trat zur Seite.
    »Es tut mir leid. Ich kann Ihnen nicht helfen.«
    Der Mann fing an zu schluchzen und begann sich selbst gegen die Brust zu schlagen. Ein paar Pfleger rannten an Jonathan vorbei und versuchten, den Mann zu bändigen. Jonathan schob Miss Elwood von dem Handgemenge fort und aus dem Saal hinaus.
    »Armer Teufel«, seufzte sie. »Es ist schrecklich, wenn sie langsam ihren Verstand verlieren.«
    Die Patienten im nächsten Saal waren wesentlich mitteilsamer und der Raum war erfüllt von ihrem Rufen und Schreien. Einige Männer standen zusammen und unterhielten sich in einer kehlig klingenden Sprache, die Jonathan nicht verstand. Einer hämmerte mit seiner Faust lautstark gegen die weiß verputzte Wand, während ein anderer auf seinem Bettrand saß und murmelnd vor und zurück schaukelte.
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