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Die Schattenwelt

Titel: Die Schattenwelt
Autoren: Tom Becker
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niemand bemerkt wurde, während sie durch den Untergrund ratterte. Als er am späten Nachmittagankam, dämmerte es bereits. Es war ein kalter, klarer Herbsttag. Auf den Straßen hasteten immer noch Menschenmassen von einem Ort zum anderen. Sie hielten die Köpfe gesenkt, als ob sie von den um sie herum aufragenden, monströsen Glasgebäuden eingeschüchtert würden.
    In einiger Entfernung konnte Jonathan die ihm wohl vertraute Silhouette eines Polizisten ausmachen, der die Straße entlangkam und direkt auf ihn zusteuerte. Es war Zeit, zu verschwinden. Wenn sie anfingen, Fragen zu stellen, war man erledigt. Jonathan versuchte, so lässig wie möglich zu wirken, drehte sich um und ging in die Gegenrichtung. Der Polizist rief ihm etwas zu, aber Jonathan tat so, als habe er ihn nicht gehört. Sobald er um die nächste Ecke gebogen war, fing er an zu rennen. Jonathan hatte nie rekordverdächtige Leistungen auf dem Sportplatz gebracht, aber wenn es um Verfolgungsjagden durch die Straßen von London ging, war er unschlagbar. Er umkurvte im Zickzack die Büroangestellten und Passanten und sprintete durch eine kleine Grünanlage, in der einige Leute auf einer provisorischen Eisfläche Schlittschuh liefen. Sie zogen anmutig ihre Kreise, während Jonathan an ihnen vorbeihetzte. Er hörte den Polizisten nochmals rufen, aber dieser lag nun weit zurück. Jonathan ließ den Eingang eines riesigen Einkaufszentrums hinter sich und versuchte lieber sein Glück auf den breiten Straßen. Einkaufszentren waren mit Überwachungskameras und Ladendetektiven ausgestattet, stets auf der Suchenach stehlenden Kindern. Hier draußen war er sicherer.
    Er überquerte einige Straßen und fand sich auf einem kleinen Platz wieder. Ein Springbrunnen plätscherte friedlich vor sich hin. In einer Ecke wurden an einem Kiosk Kaffee und Snacks verkauft. Die Straßen um den Platz herum waren beschaulich und eine beruhigende Stille umgab diesen Ort. Als Jonathan sich umsah, war er überzeugt, dass er den Polizisten abgeschüttelt hatte. Er befand sich erst einmal in Sicherheit. Er ließ sich an einer Marmorwand nieder und atmete tief durch. Auf der einen Seite des Platzes ragten drei wuchtige Gebäude hoch in den Himmel auf. Das mittlere war das größte, und an seiner Spitze blinkte ein rotes Licht, um tieffliegende Flugzeuge auf seine Anwesenheit aufmerksam zu machen. Als Jonathan den Kopf in den Nacken legte, um das Gebäude zu betrachten, fühlte er sich klein und unbedeutend. Er fragte sich, was es für ein Gefühl sein musste, dort im obersten Stockwerk zu arbeiten und den ganzen Tag auf den Rest der Welt hinunterzublicken.
    In diesem Moment fiel ihm die Frau ins Auge. Sie trug einen Nadelstreifenanzug und überquerte schwungvoll den Platz. Die Spitze ihres Regenschirms traf im Gehen immer wieder klappernd den Boden. Sie hatte eine Melone elegant in einer leichten Schräglage so auf ihrem Kopf drapiert, dass sie den Blick auf eine Strähne ihrer leuchtend rosa gefärbten Haare freigab. Obwohl es so schien, als habe niemand sonstvon ihr Notiz genommen, hatte ihre Erscheinung eine nahezu hypnotische Anziehungskraft, die es Jonathan beinahe unmöglich machte, den Blick von ihr abzuwenden. Sie bemerkte, dass er sie ansah, und lächelte ihn breit an. Als sie gemäßigten Schrittes die Richtung wechselte und direkt auf ihn zusteuerte, überkam ihn eine Welle von Gefühlen, die ebenso unbehaglich wie unerklärlich waren.
    Zur selben Zeit erreichte der Polizist den Platz auf der gegenüberliegenden Seite. Vor Anstrengung und Wut schnaubte er heftig. Jonathan stand langsam auf und versuchte sich vorsichtig davonzustehlen. Als sie seinen Verfolger bemerkte, winkte die Frau Jonathan kurz zu und legte einen Finger an ihre Lippen. Anschließend näherte sie sich dem Polizisten und begann, ihm weitausholend eine Frage zu stellen. Jonathan brauchte keine zweite Einladung und rannte davon. Wer auch immer diese Frau war, sie hatte ihm einen großen Gefallen getan.
    Als er sich der U-Bahn-Station näherte, klingelte sein Handy, und er zuckte zusammen. Er wühlte es aus seiner Tasche und sah auf das Display. Es war Miss Elwood – die Nachbarin von gegenüber, die einzige Freundin seines Vaters. Das konnte nur eines bedeuten: schlechte Nachrichten.
    »Hallo?«
    »Hallo Jonathan. Ich bin’s. Hör mal … dein Vater ist wieder krank. Sie haben ihn ins Krankenhaus gebracht. Ich fahre jetzt dorthin. Bist du noch in der Schule? Ich kann dich unterwegs abholen.«
    Jonathan
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