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Die Schattenwelt

Titel: Die Schattenwelt
Autoren: Tom Becker
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aber der Mann drehte sich nicht einmal um. Es war, als ob Ricky unsichtbar wäre. Das konnte alles nicht wahr sein. Vielleicht hatte er sein Bett gar nicht verlassen und dies war nur ein furchtbarer Albtraum. Sein Herz raste in seiner Brust und Tränen der Angst brannten in seinen Augen.
    Niemand würde ihm hier helfen, er musste weglaufen. Ricky schaffte es bis zum linken Ende des Platzes, wo eine breite Steintreppe ihm einen Fluchtweg bot. Als er die Stufen hinaufstolperte, stieß er mit dem japanischen Pärchen zusammen, das sich zuvor fotografiert hatte. Er entschuldigte sich im Weiterlaufen, aber die beiden reagierten überhaupt nicht. Am Ende der Treppe wandte sich Ricky nach rechts. Die zwei Totengräber folgten ihm Seite an Seite die Stufen hinauf. Der kleinere Mann trat, angesichts derlangsamen und bedächtigen Gangart seines größeren Begleiters, ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.
    Ricky blickte links auf ein großes, hohes Gebäude, das unheilvoll emporragte. Werbebanner für irgendeine Kunstausstellung flatterten im Wind. Vor ihm, auf der anderen Straßenseite, befand sich eine Kirche. Der Turm reckte sich stolz und trotzig in den Himmel. Da wäre er in Sicherheit, wenn er es nur bis dorthin schaffte. Die Fußgängerampel schaltete genau in dem Moment auf Rot, als hinter ihm der kleinere Mann auftauchte. Er keuchte vor Anstrengung. Ricky trommelte auf den Ampelknopf, aber der Verkehr floss weiter. Sie waren nur ein paar Schritte hinter ihm. Es gab keinen Ausweg …
    Ricky rannte über die Straße und wich knapp einem wild hupenden Auto aus. Er stürmte auf die Kirche zu. Ein Schild an der Seite des Gebäudes verkündete, dass dies die ›St. Martins in the Field‹-Kirche war. Ricky wagte einen kurzen Blick zurück und sah seine beiden Verfolger immer noch auf der anderen Straßenseite warten. Der Kleinere schien vor Wut zu zittern, doch der Größere grinste lediglich. Ricky erschauderte und stürzte in die Kirche.
    Eine wohltuende Ruhe empfing ihn. Regen, Wind und Verkehr waren nur noch als leises Brummen zu vernehmen. Ricky streifte seine Kapuze ab und betrachtete, während er auf den Altar zuging, die Deckenornamente. Die Bänke waren leer, abgesehen von einer jungen Frau, die in der ersten Reihe saß. Sietrug ein langes, purpurfarbenes Kleid und einen Hut. Den Kopf hatte sie zum Gebet gesenkt. Als Ricky in die Reihe hinter ihr rutschte, erhaschte er einen Blick auf ein paar leuchtend orangefarbene Haarsträhnen, die unter ihrem Hut hervorblitzten. Die Bank knarzte, als er sich hinsetzte. Die Frau drehte sich zu ihm um. Obwohl es nicht den kleinsten Hauch von Farbe auf ihrem blassen Gesicht gab, war sie wunderschön. In ihren Augen standen Tränen.
    »Hallo«, flüsterte sie.
    »Oh … Hi.« Er machte eine Pause. »Geht es Ihnen gut?«
    Sie lächelte und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab.
    »Es geht schon. Danke der Nachfrage.«
    »Gern geschehen.«
    Trotz ihrer Traurigkeit klang ihre Stimme leicht und melodiös. Ricky kratzte sich verlegen am Kopf. Die Frau tätschelte einladend auf den Platz neben sich und Ricky rutschte um die Bank herum und setzte sich neben sie. Er bemerkte kaum, dass der süßliche Duft, den er bereits auf der Straße wahrgenommen hatte, sich wieder ausbreitete.
    »Also, was machst du hier?«, fragte sie freundlich. »Du siehst unglücklich aus, genau wie ich.«
    Hinter ihm schlug der Wind die Tür zu und Ricky wirbelte herum. Da war niemand. Es war idiotisch. Er musste sich beruhigen.
    »Ja … Jetzt geht es mir wieder gut. Mich haben nur ein paar Leute belästigt.«
    Die Frau seufzte. »Menschen können so böse zueinander sein.«
    Ricky rutschte unbehaglich auf der Bank hin und her.
    »Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«, brachte er schließlich hervor.
    »Aber natürlich, mein Kleiner.«
    »Warum haben Sie geweint, als ich hereinkam?«
    Sie seufzte leise. »Das ist sehr kompliziert.«
    »Sie müssen es mir nicht sagen …«
    »Nein. Ist schon in Ordnung. Es macht mich nur immer so traurig, wenn ich einen der Kleinen holen muss.«

    Auf dem Trafalgar Square freute sich Mr Watkins schon darauf, dem Regen zu entfliehen und eine Tasse Tee zu trinken, aber es gab ein Problem.
    »Wir sind definitiv einer zu wenig. Ich habe zwei Mal nachgezählt.«
    Mr Watkins seufzte. Einer fehlte immer.
    »Wir haben Ricky Thomas die Straße runterlaufen sehen«, piepste jemand.
    Der Lehrer sah sich um. Das war ja großartig. Der Junge konnte überall stecken. Warum musste
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