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Die Schattenflotte

Die Schattenflotte

Titel: Die Schattenflotte
Autoren: Boris Meyn
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schwer werden. Sie hatten zwar das Kindermädchen, aber Agnes war bislang nur den halben Tag für ihre gemeinsame Tochter da. Wenn Tilda keine Proben hatte oder Konzerte gab, wollte sie sich selbst um ihre Tochter kümmern. Und mit ihren acht Jahren war Ilka inzwischen ein ziemliches Programm gewohnt. Ein buntes und abwechslungsreiches Programm, das im gemeinsamen Musizieren mit ihrer Mutter gipfelte. Auch wenn er Agnes bestimmt überreden konnte, für eine gewisse Zeit den gesamten Haushalt zu übernehmen, es würde ihr fehlen. An den Wochenenden würden sie dann gemeinsam nach Berlin fahren, vorausgesetzt, er konnte es beruflich einrichten. Sören versuchte, den Gedanken zu verdrängen. Es waren noch zwei Monate, bis sie sich entscheiden mussten.
    Tilda hatte sich nichts anmerken lassen, aber er wusste, wie schwer es ihr selbst heute gefallen war, eine Probe ausfallen zu lassen. Morgen war Hauptprobe für das philharmonische Konzert im großen Saal des Convent Garten. Händel, das Concerto grosso, Beethoven, Schubert und Haydn wurden gespielt. Auch wenn Sören sich große Mühe gab, die genauen Bezeichnungen der Musikstücke waren ihm immer noch nicht so geläufig. Er erinnerte sich nur daran, dass die Sinfonie von Haydn die mit dem Paukenschlaggenannt wurde. Und er wusste, dass die Hauptperson des Abends neben dem Dirigenten Richard Barth ein junger, vierzehnjähriger russischer Pianist namens Rubinstein war. Er wünschte sich, dass Mathilda eines Tages genauso im Rampenlicht stehen und auf der Bühne brillieren würde. Gerade deshalb war Berlin so wichtig für sie.
    Doch wie Sören es auch drehte, sein Kopf war voller Dinge, die dort momentan nicht hingehörten. Er empfand es schon als schlimm genug, dass er während der letzten Tage die teilweise akuten Probleme seiner Mandanten vernachlässigt hatte, um sich an den Feiertagen seiner Familie etwas mehr widmen zu können. Der plötzliche Tod seiner Mutter hatte dann alles aus den Fugen geraten lassen. Und in zwei Tagen kam auch noch David aus Hannover, um bei diesem Architekten vorstellig zu werden. Sören fiel nicht einmal mehr der Name ein, so unkonzentriert war er. Jedenfalls war der Termin für Davids Zukunft in etwa so wichtig wie das Engagement in Berlin für Tilda. Eine Anstellung in diesem Büro bedeutete neben einem guten Verdienst vor allem ein Sprungbrett für eine berufliche Karriere. Mit dreiundzwanzig, hatte sein Ziehsohn ihm erklärt, sei es an der Zeit, dass er endlich eigenes Geld verdiene.
    Ja, David hatte sich gemacht. Sören hatte anfangs nicht daran glauben wollen, dass es David schaffen könne, alle Defizite, die er durch seine problematische Kindheit und den späten Einstieg ins Schulleben gehabt hatte, zu überwinden. Sören und Tilda hatten den Jungen mit vierzehn Jahren adoptiert. Bis dahin hatte er als Waisenkind, begleitet von Elend und Armut, in einer jugendlichen Räubergang gelebt, und eine kriminelle Zukunft war ihm so gut wie sicher gewesen. Aber David war aufgetaut, hatteinnerhalb kürzester Zeit alle schulischen Versäumnisse nachgeholt und erwies sich zudem als dankbarer Schüler, dem das Lernen Spaß machte. Vor vier Jahren hatte er die Aufnahmeprüfung ans Polytechnikum in Hannover geschafft, und nun hatte er den Abschluss mit Auszeichnung bestanden. Sören war auf Davids Leistungen stolz und ein wenig auch auf sich selbst.
    Und nun würde er sich auch noch um das Haus in der Gertrudenstraße kümmern müssen, das bis unters Dach mit kostbarem Inventar vollgestellt war, darunter die Bibliothek seines Großvaters, Conrad Roever. Sie barg medizinische und naturwissenschaftliche Handbücher und Folianten von unschätzbarem Wert. Seine Mutter hatte sich nie davon trennen können, wahrscheinlich weil immer noch die Hoffnung in ihr schlummerte, Sören könnte irgendwann zur Medizin zurückfinden. Aber das Kapitel war längst abgehakt. Er würde die Bücher einem Institut oder einer Universität als Spende zukommen lassen. Dennoch konnte Sören sich nicht mit dem Gedanken abfinden, das Geburtshaus seiner Mutter zu verkaufen. Er wollte es zur Erinnerung behalten. Und was sollte aus Lisbeth werden? Die einstige Köchin und Hauskraft seiner Mutter war bereits selbst in den Sechzigern. In diesem Alter fand sie keine Anstellung mehr, und auf die Straße setzen konnte er sie nicht. Bis zuletzt hatte Lisbeth die Funktion einer intimen Gesellschafterin und Vertrauten innegehabt. Vielleicht konnte er sie übergangsweise für Ilka   …?
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