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Die Schattenflotte

Die Schattenflotte

Titel: Die Schattenflotte
Autoren: Boris Meyn
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zurück. Nicht einmal ein Gemurmel oder Getuschel war zu vernehmen. Niemand ließ sich etwas anmerken, denn obwohl die Sozialdemokraten in der ganzen Nation immer mehr Zulauf bekamen und einen Reichstagssitz nach dem anderen besetzten, hatten sie hier in der Stadt nach wie vor kein politisches Mitspracherecht. Mehr noch: In Hamburgs bürgerlichen Kreisengalten Sozialdemokraten auch 1902 noch als zwielichtiges, kriminelles Pack.
    Auch aus diesem Grund verhielt sich Sören, wie es bereits seine Eltern während der Sozialistengesetze gehandhabt hatten. Erst spät war er darauf gestoßen, dass Hendrik und Clara Bischop die Sozialdemokraten schon sehr früh unterstützt hatten, ohne der Partei jemals selbst anzugehören. Die Zuwendungen mussten über die Jahre offenbar das Übliche überschritten haben, anderenfalls wäre die Partei am heutigen Tag nicht durch einen ihrer führenden Köpfe vertreten gewesen. Immerhin war Stolten der erste Sozialdemokrat in der Hamburger Bürgerschaft. Aber Sören stand nicht der Sinn nach Rechtfertigung, er war schließlich nicht dafür verantwortlich zu machen, mit wem seine Mutter Umgang gepflegt hatte. Sollten die Trauergäste doch selbst eine Erklärung dafür finden, warum Sozialdemokraten anwesend waren.
    Sören selbst hielt in der Öffentlichkeit Distanz zur Partei. Sein gesellschaftlicher Stand und Beruf ließen es nicht zu, sich als Befürworter der Sache zu erkennen zu geben. Im Gegensatz zu Tilda, die sich seit ihrer Hochzeit schwer genug damit tat, gesellschaftlichen Verpflichtungen nachzukommen. Aber sie hatte durchaus verstanden, dass Sören mehr für die Sache tun konnte, wenn er aus dem Hintergrund agierte. Viele seiner Klienten waren Sozialdemokraten – allerdings legte er tunlichst Wert darauf, dass niemand ihren Anteil an der Gesamtzahl seiner Mandate erfuhr. Seine Einkünfte wären ohne die vielen Pflichtmandate weitaus höher gewesen, doch reichte es auch so für ein gutes Auskommen und einen Lebensstil, der deutlich über dem des Großteils der Bevölkerung lag. Mathilda hatte sich schnell an das Leben gewöhnt, das Sören ihr bot, allerdings achtete sie nachdrücklich darauf,dass es darin keinen Überfluss gab. Es war nicht so, dass Sören ein Leben in Saus und Braus führen wollte, dennoch war Tildas Maß der Bescheidenheit noch einmal deutlich unter seinem angesiedelt, und sie war es, die ihn immer häufiger mit der Frage zügelte, ob für diese oder jene Ausgabe wirklich eine Notwendigkeit bestand.
    Er brauchte nicht lange nach seiner Frau zu suchen. Tilda stand mit Henriette von Borgfeld zusammen, der Vorsitzenden eines Vereins für gefallene Mädchen aus dem benachbarten Altona. Clara Bischop war Ehrenmitglied des Vereins gewesen, nachdem sie eine beträchtliche Summe für den Neubau einer Mädchenherberge durch Spenden zusammengetragen und die restlichen Kosten schließlich selbst übernommen hatte. Tilda trug den schwarzen Winterpaletot, den Sören bei Renck & Co. am Graskeller beim Inventur-Ausverkauf erstanden und ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Es stand ihr phantastisch. Genauso wie die Knopfstiefel aus Chevreauxleder, ebenfalls ein Kauf in einer vorweihnachtlichen Vorteilswoche. Erst hatte sie ihn tadelnd angeschaut, wie sie es fast immer tat, wenn er ihr etwas Luxuriöses zukommen ließ, aber als Sören ihr den Preis verraten hatte, hatte sie versöhnlich gelächelt. Er hatte sie bei Gustav Elsner am Neuen Wall zum Schnäppchenpreis von 7,90   Mark erworben. Sie sah einfach umwerfend darin aus, stellte er wieder fest, auch wenn er sich einen anderen Anlass für diese Beobachtung gewünscht hätte.
    Im gleichen Augenblick fragte er sich, warum ihm gerade jetzt so nichtssagende Dinge durch den Kopf gingen. Mit einem unwillkürlichen Stechen in der Brust musste er daran denken, was ihnen bevorstand. Wenn Tilda das Engagement in Berlin tatsächlich annehmen sollte – er mochte den Gedanken nicht zu Ende führen.Ein Vierteljahr, eine Spielzeit getrennt von ihr   … Der Gedanke schmerzte. Aber er konnte, nein, er wollte es ihr nicht verbieten. Da war das Versprechen, das er ihr gegeben hatte, als er Tilda vor zehn Jahren einen Antrag gemacht hatte. Er erinnerte sich noch genau an seine Worte. Niemals wolle er ihr Fesseln anlegen, und immer solle sie die Möglichkeit haben, sich beruflich frei entfalten zu können. Nun war es also so weit. Man wollte sie als Erste Geige. Die Anfrage aus Berlin war ihre Chance.
    Für Ilka würde die Trennung besonders
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