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Die Schakkeline ist voll hochbegabt, ey: Aus dem Leben einer Familienpsychologin (German Edition)

Die Schakkeline ist voll hochbegabt, ey: Aus dem Leben einer Familienpsychologin (German Edition)

Titel: Die Schakkeline ist voll hochbegabt, ey: Aus dem Leben einer Familienpsychologin (German Edition)
Autoren: Sophie Seeberg
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genervten »Dann kommen Se halt rein!« bedeutete sie mir, ihr ins Chaos zu folgen.
     
    Aus der Gerichtsakte, die ich mit dem Gutachtenauftrag geschickt bekommen hatte, wusste ich, dass Familie Koch mit ihren drei Kindern schon mehrfach aufgefordert worden war, die ihnen zugewiesene Obdachlosenunterkunft in Ordnung zu bringen, da diese schon kurze Zeit nach dem Einzug der Familie in einen Zustand geraten sei, in dem Kinder nicht aufwachsen könnten. Eine Verbesserung war jedoch nicht eingetreten.
    Das Jugendamt hatte schließlich einen Antrag auf Sorgerechtsentzug gestellt und wollte die Kinder schon vor Beginn des Gutachtens in Obhut nehmen. Die zuständige Richterin ermahnte die Eltern, die versprachen, sofort alles in Ordnung zu bringen. Deshalb wurde entschieden, dass die Kinder zunächst bei den Eltern bleiben sollten. Offenbar hatte die Richterin keine Vorstellung davon, wie die Unterkunft der Familie Koch aussah.
    Wie konnte die Richterin entscheiden, dass die Kinder in einer solchen Umgebung bleiben sollten?
    Es war dunkel, weil die Fenster mit Möbeln oder Kisten vollgestellt waren, überall standen Tüten herum, aus denen Kleidung, Kabel und Müll quollen. Der Boden war übersät von ausgetretenen Zigaretten, leeren Bierdosen, Flaschen und Essensresten. Doch das Schlimmste war der Geruch. Ich bemühte mich, nur durch den Mund zu atmen, hatte dann aber das absurde Gefühl, all das, wonach es hier roch, auf der Zunge zu haben. Ich wünschte mir zum ersten Mal in meinem Leben einen dieser Auto-Duftbäume herbei. Am besten direkt unter meine Nase!
     
    Es schepperte.
    Etwas, das ich für einen großen Schrank in der Funktion eines Raumteilers gehalten hatte, fiel um und stellte sich als Sperrholzplatte heraus. Dahinter kam im Halbdunkel der Wohnung ein dürrer Mann in Unterhose zum Vorschein.
    »Klaus! Du sollst dir was anziehen, hab ich gesacht!«
    Frau Koch schüttelte den Kopf und wandte sich dann wieder mir zu. »Das is normal! Da müssen Se sich nichts denken. Der zieht sich jetz an. Alles is gut. Das is normal!«
    Hinter ihr bemühte sich der Mann, die Sperrholzplatte wieder aufzustellen. Offenbar bestand die Technik darin, die Platte so an zwei Stühle zu lehnen, dass sie stehen blieb. Der Unterhosenmann beherrschte diese Technik aber nicht. Schon zum dritten Mal kippte die Platte mit einem lauten Rums wieder um.
    » KLAUS ! HÖR AUF JETZ ! MACH NICH SO ’N KRACH !«
    Klaus stand reglos da und schien zu überlegen, was nun zu tun war.
    Frau Koch ließ sich an einem Campingtisch nieder. Sie zündete sich eine Zigarette an und sah mich herausfordernd an. »Also? Was soll das hier? Das is alles normal hier. Kein Problem. Nix. Was will das Jugendamt von uns? Die sollen sich mal schön um ihren eigenen Mist kümmern!«
     
    Klaus hatte sich inzwischen angezogen und kam zu uns an den Tisch. Er gab mir die Hand, und ich erschrak. Die Hand fühlte sich an wie die Klaue eines riesigen Vogels.
    »Tach! Ich bin der Herr Koch.«
    Ich sah ihn an und vergaß das Klauengefühl umgehend. Klaus Koch sah aus wie ein Monster. Das Gesicht war voller Brandnarben. Er hatte weder Augenbrauen noch Wimpern. Seine linke Gesichtshälfte war gelähmt, und sein rechtes Ohr war nicht mehr als solches zu erkennen. Der arme Mann konnte nicht anders, als beim Reden zu spucken und zu sabbern. Und obwohl er ganz offensichtlich nichts dafürkonnte, wurde mir übel.
    Natürlich dachte ich nicht, dass Herr Koch als Mensch weniger wert war, weil mir sein Anblick und seine Art zu sprechen auf den Magen schlugen. Im Gegenteil: Er tat mir furchtbar leid, und am liebsten hätte ich ihn sofort in eine Klinik gefahren, um das Ganze in Ordnung zu bringen. Jetzt aber sollte ich doch die Frage des Gerichts beantworten, ob das Kindeswohl hier gefährdet sei oder nicht.
     
    Ich hatte an mich den Anspruch, völlig wertfrei auf die Menschen zuzugehen, die ich zu begutachten hatte. Ich wollte mir unvoreingenommen ihre Sicht der Dinge anhören und dann ein Bild von ihnen machen. So weit die Theorie. Aber wie geht das, wenn ein Großteil der Konzentration dafür benötigt wird, ruhig zu atmen, den Würgereiz zu unterdrücken und sich an den eigenen Namen zu erinnern?
    Heute, nach vielen Jahren als Sachverständige, wäre so eine Situation kein wirkliches Problem mehr für mich gewesen. Mittlerweile habe ich so viel gesehen (und auch gerochen), dass ich das meiste schnell ausblenden oder mir eine Strategie zurechtlegen kann, um die Situation so zu
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