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Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Titel: Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche
Autoren: Alina Bronsky
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Stunden später war er wieder da. Er trug einen kleinen Reisekoffer auf Rollen ins Haus. Dann trat er beiseite, um das Mädchen hinter seinem Rücken vorzulassen, und ich erstarrte. Vor mir stand eine 18-jährige Sulfia, leibhaftig, aus Fleisch und Blut, mit krummem Rücken und einem schüchternen Lächeln. Eine Sulfia mit dunkelbraunem mattem Haar, hellbraunen Augen – die Kopie hatte etwas andere Farben, aber alles andere stimmte. Sie war sogar genauso angezogen: Eine unförmige Jeans ließ vermuten, dass die Trägerin Übergewicht an den unvorteilhaftesten Stellen hatte. Sie trug ein dunkelblaues T-Shirt mit einer Aufschrift, die ich nicht lesen konnte, und keinerlei Schmuck bis auf die winzigen goldenen Ohrringe. Weder John noch Lena begriffen, warum ich mich nicht mehr rühren konnte, und dann fiel mir Lena um den Hals. Sie war offenbar ein sehr impulsives Mädchen.
    Ich setzte mich aufs Sofa, während John Lena das Hauszeigte. Sie plauderten munter auf Englisch, das ich nicht verstand. Ich beschloss, John zu bitten, es mir beizubringen. Es ärgerte mich, dass Lena es konnte und ich nicht. Ich wollte auch Englisch mit John sprechen.
    Sie kehrten zurück, und Lena kniete sich vor mich und sagte mit einem schüchternen Lächeln: »Und wo ist Mama?«
    Sie war kein einjähriges Kleinkind mehr, ihr Lächeln gefiel mir nicht. Sollten andere sagten, dass sie Charme hatte, ich weigerte mich schlicht. Ich erhob mich und deutete mit einer Handbewegung an, dass sie mir folgen solle. Lena dackelte fröhlich hinter mir her, ich führte sie in mein Schlafzimmer, nahm sie an der Schulter (sie war kleiner als ich, genau wie Sulfia, und ich trug dazu Hausschuhe mit hohen Absätzen), ich zeigte auf die Urne und sagte schadenfroh: »Da drin.«
    Erst begriff sie nicht, dann kam sie näher, las die goldenen Buchstaben auf dem Marmor, den Namen, das Datum. Ihre Lippen begannen zu zittern, sie drehte sich zu mir. »Warum wussten wir nichts davon?«
    »Weil es euch einen Scheißdreck interessiert hat«, sagte ich.

[Menü]
    Deutschland ist ein kleines Land
    Ich war froh, dass John Lena übernahm. Er fuhr sie mit seinem Mercedes durch die Gegend, damit sie sich einen Eindruck machen konnte. Sie hatte die Begegnung mit der Urne offenbar gut verkraftet und quietschte fröhlich durchs Haus. Sie war begeistert, wie grün und aufgeräumt Deutschland war. Sie hatte mir russische Bücher mitgebracht und eine Mohnrolle aus einer Bäckerei in Tel Aviv. Sie war eine etwas andere Sulfia, eine unbeschwerte, mit leuchtenden Augen. Sie hatte meist gute Laune, und sie nahm einem nichts übel. Sie stellte mir tausend Fragen über mich und ihre Mutter, aber ich hatte keine Lust, ihr zu antworten. Und John wusste nichts über unsere Vergangenheit und konnte ihr da zum Glück auch nicht weiterhelfen.
    Zu Aminat sagte ich nur, sie sei verreist.
    Von John erfuhr ich, warum Lena uns so plötzlich zugeflogen kam. Sie hatte einen Freund, der etwas älter war, und der Freund hatte einen Job, der sich darum drehte, dass Chinesen unzählige Kopien berühmter Gemälde herstellten, Van Gogh, Rembrandt, solche Sachen. Lenas Freund verkaufte sie in Deutschland weiter. Warum ausgerechnet ein Israeli chinesische Fälschungen verkaufte, war mir nicht klar, und das alles klang in meinen Ohren recht betrügerisch. Lena sagte, er würde nicht viel daran verdienen, aber immerhin konnte er sich damit einen Traum erfüllen – in Deutschland leben. Sie hatte ihn in Hamburg besucht, und jetzt war sie bei uns. Endlich, sagte sie und nahm meine Hand, die ich ihr jedes Mal wieder entzog.
    John sagte, sie könne in seinem Haus so lange bleiben, wie sie wolle. Mir blieb die Luft weg. Ich versuchte, mit ihm darüber zu reden, und er sagte: »Das ist kein Problem, ich mag deine Familie.« Die Worte »Diese kleine Schlampe ist nicht meine Familie und wird es nie sein« blieben mir im Hals stecken, als ich Lenas Lachen aus dem Garten hörte, wo sie gerade telefonierte. Sulfia hatte nie so gelacht. Vielleicht hätte sie aber so gelacht – wenn sie jemals etwas zum Lachen gehabt hätte.
    Ich wartete auf Aminat, und wer rief an? Kalganow.
    Ich erkannte ihn am Röcheln im Hörer – noch lange, bevor er ein Wort gesprochen hatte. Genau in dem Rhythmus hatte er früher immer geschnarcht. »Kalganow«, rief ich gut gelaunt, denn Lena war außer Haus und John hatte eben eine neue Sorte Plätzchen mitgebracht. »Kalganow, rufst du mich gerade im Schlaf an?«
    »Röschen«, sagte Kalganow und
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