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Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Titel: Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche
Autoren: Alina Bronsky
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würgte einen elenden Husten hervor. »Röschen, mein allergrößter Liebling.«
    Es stellte sich heraus, dass seine Lehrerin für Russisch und Literatur verstorben war.
    »Wann?« fragte ich misstrauisch, und er sagte: »Vor zwei Wochen.«
    Diese Zeit reichte ihm, um festzustellen, dass er nicht ohne mich leben konnte – hatte er ja eigentlich noch nie gekonnt.
    »Kalganow, ich habe einen Mann!« rief ich. »Ich habe einen englischen Gentleman mit einem großen Garten und zwanzig Sorten Tee im Küchenschrank.«
    »Das macht doch nichts, Röschen«, sagte Kalganow. »Wir sind trotzdem für alle Ewigkeiten verheiratet.«
    »Du überstehst doch den Flug nicht«, sagte ich, und er antwortete: »Aber dann begräbst du mich, und das reicht mir schon.«
    Ich sagte ihm nicht, wie teuer eine Beerdigung in Deutschland war, ich ging direkt zu John. Ich sagte, Kalganow sei ein sehr alter Angehöriger von mir, und er hätte nicht mehr lange zu leben. John küsste mir die Hand. In diesem Moment wünschte ich mir sehr, dass er mich bat, seine Frau zu werden. Ich überlegte sogar, ob ich ihm nicht sagen sollte, wie sehr ich mir das wünschte. Schließlich hatte er mir bis jetzt alle Wünsche erfüllt, von Aminat abgesehen.Aber ich war zu stolz, und es stimmte: Ich war mit Kalganow verheiratet.
    Ich schickte Kalganow sein Flugticket und eine Einladung und holte ihn zusammen mit John vom Flughafen ab. Er war komplett ergraut, trug seine uralte Arbeitsjacke und ging am Stock.
    Kalganow feuchtete meine Wangen mit seinen Küssen an und sagte, alle um ihn herum wären alt oder tot, nur ich sei noch frisch wie in den Zeiten unserer Jugend. Nun, genauso war es auch. John drückte Kalganows Hand und nahm sein Gepäck, einen mit Draht umwickelten Koffer, dessen Leder löchrig war, und eine große Plastiktüte. Kalganow hakte sich bei mir unter, wir gingen ins Parkhaus und wuchteten ihn mit vereinten Kräften auf den Rücksitz. Den Stock legten wir in den Kofferraum.
    Kalganow klebte mit der Nase am Fenster. Die Autobahn gefiel ihm. Er stieß immer wieder begeisterte Rufe aus. Mich erinnerte das an meine Ankunft in Deutschland. Ich schämte mich ein bisschen, für ihn und für meine Erinnerung.
    »Du bist so schön, Röschen«, murmelte Kalganow vom Rücksitz. Ich sah aus dem Augenwinkel zu John rüber. Und obwohl sein Gesicht wie immer sehr ruhig war, hatte ich das Gefühl, dass sich irgendwo in seinen Mundwinkeln ein Lächeln versteckte.
    Als wir das Haus betraten, spielten Kalganows halb blinde Augen ihm einen bösen Streich. Lena kam die Treppe heruntergerannt, laut »Opa!« rufend, und Kalganow breitete seine Arme aus und hielt geradeso das Gleichgewicht. Allerdings rief er dabei den Namen unserer Tochter. Sie fielen sich in die Arme und sagten sich dumme Sachen. Ich hielt es nicht mehr aus und ging in mein Schafzimmer,schaltete den Fernseher ein und munterte Aminat auf. »Zeig ihnen, was du kannst, mein Kind. Lass mich nicht im Stich.«
    Wir saßen zu viert auf Johns Ledersofa, als Aminat durch eine Zuschauerabstimmung zur besten jungen Sängerin Deutschlands gekürt wurde. Kalganow weinte, ich saß starr vor Aufregung, unfähig, mich zu rühren, John daneben mit einem Gesicht klar wie ein wolkenloser Himmel. Lena hatte die Hände zwischen den Knien zusammengedrückt und schüttelte den Kopf.
    »Was ist?« zischte ich sie an, denn in ihrer Fähigkeit, mir auf die Nerven zu gehen, übertraf sie sogar Kalganow.
    »Armes, armes Ding«, flüsterte Lena. Ich führte ihren unglücklichen Gesichtsausdruck auf puren Neid zurück. Aminat stand mit versteinertem Gesicht auf der Bühne und wurde mit Glitzer überschüttet, weiße Tauben kreisten über ihrem Kopf, sie hatte einen Plattenvertrag, alle Kameras waren auf sie gerichtet, alle Mikrofone harrten ihrer Worte, die Menschen applaudierten stehend, und sie hob ihren steifen dünnen Arm und winkte. Ich hoffte nur, den Fernsehzuschauern würde nicht auffallen, wie sehr sie sich in ihr geirrt hatten. Na gut, dachte ich dann, der erste Schritt zum Ruhm ist getan. Sie hat aber noch vieles vor sich. In Deutschland kennt sie jeder, aber Deutschland ist eben auch ein sehr kleines Land.

[Menü]
    Die tatarische Küche
    Am Tag nach Aminats Krönung starb Dieter.
    Es wäre pietätlos zu behaupten, dass es mir recht gewesen wäre. Aber der Zeitpunkt war nicht schlecht. Ich kümmerte mich um alles, froh über die Gelegenheit, aus dem Haus zu kommen. Lena und Kalganow saßen auf eine unerklärliche Art in
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