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Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Titel: Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche
Autoren: Alina Bronsky
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auch daran, dass ihm die Haare fehlten.
    »Oh!« rief ich betont fröhlich, als ich ihm in die Augen blickte. »Du siehst gut aus, und ich habe dir etwas sehr Feines mitgebracht!« Wenn ich mir jemals erlaubt hätte, mit einer meiner Patientinnen in so einem Tonfall zu sprechen, hätte ich mich selber eine Woche lang verachtet.
    Ich deckte den Tisch, schnitt das Gemüse, fischte Teller mit angetrockneten Essensresten aus der Spüle und wusch sie schnell ab. Fegte die Krümel vom Tisch, legte eine saubere Tischdecke drauf.
    »Essen!« rief ich. Dieter setzte sich an den Tisch, führte ein Stück Brathähnchen zum Mund, das ich für ihn von der Haut freigelegt hatte. Er kaute daran herum und schluckte. Ich konnte sehen, wie es mühsam seine Kehle hinunterrutschte.
    »Und, was ist jetzt?« fragte Dieter.
    Er meinte mich und John. Ich zuckte mit den Schultern. Ich aß das ganze Brathähnchen allein, mit frischem Paprika aus ökologischem Anbau, mit abgebrochenen knusprigen Baguettestücken. Dieter hatte keinen Hunger, das Kauen tat ihm weh.
    »Alle haben mich verlassen«, sagte Dieter, »alle, alle. Selbst du.«
    Ich kaute gründlich und sah an ihm vorbei.

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    Aber von mir war nicht die Rede
    Ich sagte John nicht, dass Dieter bald sterben würde. Das Gute an John war, man musste ihm nicht viel sagen, trotzdem wusste er alles. Er machte immer das Nötigste. Das klingt nach wenig, ist aber sehr viel: John machte das, was wirklich nötig war, und man musste ihn nicht darum bitten. Alles andere ließ er sein. Und alles andere war auch überflüssig.
    Sulfia war jetzt seltener bei mir, sie mochte kein Fernsehen, und ich wollte sie auch nicht an mich fesseln. Ich ließ sie ziehen. Ich guckte mit John zusammen die Sendung über Aminat. John kommentierte sie nicht mehr.Dafür redete ich ununterbrochen. »Schauen Sie mal, John, in welches Kostüm sie das Mädchen diesmal gesteckt haben. Man erkennt sie nicht mehr wieder. Aber vielleicht ist es auch besser so. Und sie bewegt sich auf der Bühne viel sicherer als letztes Mal, dieser Tanzunterricht bringt wirklich was, nicht wahr, John? Sie wird’s noch allen zeigen, meine Aminat. Ich denke, dieser Glatzkopf aus der Jury schläft mit ihr, weil er sie immer so lobt, selbst wenn sie keinen einzigen Ton trifft. Und diese schöne Frau aus der Jury, warum hatte sie Tränen in den Augen, als Aminat gesungen hat? Das konnte doch jeder sehen. Und diese Zuschauerabstimmungen, welches Mädchen bleiben und welches gehen soll, das ist doch sicher alles arrangiert, oder? Sonst würde sie nicht immer wieder weiterkommen. John, warum nennen sie alle immer noch Anita und Alina – ist es so schwer, sich ihren Namen zu merken? Hauptsache, sie glauben ihr, dass sie noch so jung ist. Ich hatte in ihrem Alter …«
    John sagte selten etwas. Aber eines Tages, als wir beim Frühstück saßen, entschuldigte er sich, stand auf und kam wenig später mit einem Stapel Zeitungen zurück. Er legte sie alle vor mich, und bevor ich ihn nach dem Sinn fragen konnte, sah ich das Foto auf der ersten Seite. Aminat. Diese ganzen Zeitungen hatten über sie geschrieben und ihre Fotos abgedruckt.
    »Das tatarische Waisenkind macht Furore«, »Magersüchtiges Missbrauchsopfer singt Konkurrenten in Grund und Boden«, »Die Nachfahrin von Dschingis Khan hat die schönsten Augen im deutschen Fernsehen«, »Mädchen ohne Kindheit singt sich in die Herzen der Zuschauer«, »Ist sie wirklich schon 19? Wir fanden 10 Hinweise, dass Aminat K. noch nicht volljährig ist«.
    Ich griff nach den Zeitungen, breitete sie auf dem Tisch vor mir aus, um keine Zeile zu verpassen. Ich begann zu lesen, meine Aminat war schließlich in der Zeitung und nicht nur in einer – sie war offenbar in jeder, und das mehrfach. Es schien, als könnten die Fotografen nicht genug bekommen von ihrem schmalen Gesicht, ihren unergründlichen Augen, ihrem leuchtenden Haar. Ja, sie war schön, sie sah mir so ähnlich, obwohl sie auf manchen Bildern nicht vorteilhaft getroffen war. Ich las, wie Aminat in einem Sowjetghetto aufwuchs, ohne Vater, die wechselnden Männer ihrer Mutter miterlebend. Wie sie hungerte, wie sie geschlagen wurde, weil sie ein ungehorsames Kind war. Wie sie schließlich von ihrer Großmutter an einen deutschen Pädophilen verkauft wurde, der im Gegenzug Aminats Mutter heiratete, und auf diese Art und Weise nach Deutschland kam. Ich las und las, aber von mir war nicht die Rede. Typisch.
    »Sehen Sie«, sagte ich zu John. »Alles
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