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Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Titel: Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche
Autoren: Alina Bronsky
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jedem Winkel des Hauses gleichzeitig, sie kicherte, er röchelte, und ich konnte mich schlecht den ganzen Tag im Schlafzimmer einschließen. John schnitt Rosen, beobachtete Wolken und kochte Tee. Ich fragte ihn nicht, ob ihm die neue Gesellschaft eines schlecht erzogenen israelischen Mädchens und eines sabbernden russischen Greises recht war. Das Lächeln, das ich in seinem Gesicht schon immer gespürt hatte, kam neuerdings zaghaft an die Oberfläche. Um mich nicht zu viel damit zu beschäftigen, organisierte ich Dieters Bestattung und räumte seine Wohnung auf. Ich betrat sein Schlafzimmer, in dem noch der Geruch von Krankheit und Angst hing, öffnete die Schubladen und stieß auf Stapel von handschriftlichen Aufzeichnungen.
    Auf dem ersten Heft, das ich in die Hand nahm, stand: »Die tatarische Küche«. Ich schlug es auf. » Pechlewe – eine mehrschichtige Süßspeise«, las ich. Dieters Schrift war klein, geschwungen, die Buchstaben waren rund – wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich den Schreiber für eine Frau gehalten. Diese ordentliche Schrift ließ sich sehr gut lesen. Nach den ersten Sätzen hatte ich es wieder vor Augen, mein Leben, wie ich es einmal geführt hatte. Ich hatte bis heute nicht geglaubt, dass Dieter wirklich in die Sowjetunion gereist war, um die Nationalküchen zu erforschen. Nun hielt ich den Beweis in den Händen.Die Beschreibungen seiner Gänge durch halb verfallene Dörfer, die Skizzen irgendwelcher Landschaften und vor allem: Rezepte. » Kystybyj , auch kusimja k genannt, ist eine Art Pirogge aus ungesäuertem Teig.« » Katyk ist die Bezeichnung für die gesäuerte Milch, die bei den Tataren in einem Tontopf langsam erhitzt wird. Sie wird gern mit einer kleinen Beigabe von Kirschen oder Roter Bete zubereitet.« »Für die Füllung der Gubadia , das ist ein aus festlichem Anlass gereichter gefüllter Teig, wird auch Kort , ein speziell aufgearbeiteter getrockneter Quark, verwendet.«
    In einem der Hefte fand ich das Foto der kleinen engelsgleichen Aminat, das ich Dieter vor vielen Jahren, in einem anderen Leben, geschickt hatte.
    Dazwischen waren tatarische Wörter eingestreut, er hatte versucht, die Sprache zu lernen, und hatte eine Art Vokabelheft angelegt:
    Bolalar – Kinder
    Sengel – Kleine Schwester
    Oschyjsym kilä – ich habe Hunger
    Sin bik sylu – Du bist sehr schön
    Schajtan – Dämon
    Ischak (z. B. Du bist stur wie ein Ischak) – Esel
    Und dann der Hinweis: »Es erweist sich als praktisch unmöglich, ein Kochbuch der tatarischen Küche zu schreiben.«
    Ich steckte all diese Hefte in eine große Reisetasche, die ich auf dem Schrank gefunden hatte, grau vor Staub und Spinnweben.
    Am liebsten hätte ich Dieters Wohnung verlassen und für immer vergessen. Aber ich war nicht so eine, die abhaute, ich hatte Verantwortung, schließlich hatte ich hier mal gelebt, und Dieter hatte keineAngehörigen außer mir. Ich arbeitete schnell, sortierte, stopfte Unnötiges in Plastiksäcke, trug sie hinunter, organisierte einen Sperrmüll, verkaufte Dieters Ledersofa und zwei Sessel an seine türkischen Nachbarn und putzte die Fenster.
    Dieters Geschirr hatte ich schon immer schrecklich gefunden, aber in den Küchenschränken fand ich auch wahre Schätze: zwei schwere gusseiserne Woks, einen echten Kasan, Kessel aus Kupfer, diverse afrikanische Tontöpfe, vermutlich unbenutzt, mit Spinnweben überzogen. Ich wickelte alles in Zeitungen und stellte es in eine Kiste, das wollte ich mir mitnehmen. Die Einbauküche verkaufte ich sehr günstig an den Vermieter, der mir dafür die Kisten ins Auto trug.
    Von da an störten mich Lena und Kalganow nicht mehr. Ich fragte sie nicht, wann sie vorhatten abzureisen, ich bebte vor Neugier auf Dieters Aufzeichnungen.
    Ich saß auf einem Seidenkissen auf dem Boden und las. Ich hatte nicht gewusst, dass Dieter so viele Dinge über Aminat aufgeschrieben hatte, die Geschichte ihres Lebens, die längst vor ihrer Geburt begonnen hatte, nämlich mit meiner Geschichte. Mir war nicht klar gewesen, dass Dieter so viel über mein Leben gewusst hatte. Ich konnte mich nicht erinnern, ihm von meiner Familie erzählt zu haben, vielleicht war es Sulfia gewesen, die ihn eingeweiht hatte in Dinge, über die ich nie mit ihr gesprochen hatte. Vielleicht waren Worte auch nicht nötig gewesen, und sie hatte diese Geschichte im Blut gehabt wie Aminat ihre ersten tatarischen Wörter.
    Ich betrachtete Aminats Kinderzeichnungen, die Dieter säuberlich eingeklebt
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