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Die Saga vom Eisvolk 03 - Abgrund

Die Saga vom Eisvolk 03 - Abgrund

Titel: Die Saga vom Eisvolk 03 - Abgrund
Autoren: Margit Sandemo
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Dorthin wollte sie, dorthin sollte sie!
    Sie waren nicht viele, die echten Hexen. Konnten es auch nicht sein, so unerbittlich wie die Obrigkeit gegen sie vorging. Aber diejenigen, die noch lebten, waren wirklich echte Hexen.
    Und sie war eine von ihnen. Eine von den wenigen. Sie und Tengel. Doch Tengel wollte ja nicht dazugehören. Er verschwendete seine Kraft lieber für »gute« Taten. Daß er das über sich brachte! Fünf Jahre in Sitte und Anstand waren für Sol mehr als genug.
    Sie mußte für einen Moment stehenbleiben, um ihren kostbaren Besitz zu begutachten, den sie so lange hatte entbehren müssen. Sie lächelte glücklich und erwartungsvoll. Da war der Schädel des unglückseligen Neugeborenen, der vor hundert Jahren unter einem Fußboden gefunden worden war. Da der Finger eines gehängten Gesetzesbrechers. Das Herz eines schwarzen Hundes, Friedhofserde, Schlangenzungen…
    Und da! Da war die Alraune, ein echtes Kleinod. Das Erbstück, gefunden vor einer Ewigkeit in einem Mittelmeerland, an einem Galgenberg aus der Erde gezogen, wo der Mörder im Augenblick des Todes seinen Samen vergossen hatte. Dort war die Alraune gewachsen, und die menschenähnliche Wurzel hatte so sehr ihr Weh geklagt, als sie aus der Erde gezogen wurde, daß der Zauberer, der sie in einer Donnerstagnacht bei Vollmond geholt hatte, von dem Schreien verrückt geworden war. So ging die Sage, und so hatte Hanna es Sol erzählt. Auf die Alraune mußte sie gut acht geben! Die war unbezahlbar.
    Sol wog die bizarr geformte, vertrocknete Wurzel in der Hand. Sie war groß, länger als ihre Hand, trug aber Spuren, als habe am Wurzelende jemand kleine Stücke abgeschnitten. Vielleicht war es der gefürchtetste ihrer Vorfahren gewesen, Tengel der Böse, der etwas von der Alraune abgeschnitten hatte. Die Alraune stamme von ihm, hieß es. Sicher war in jedem Fall, daß die abgeschnittenen Stücke für geheimnisvolle Handlungen verwendet worden waren. Sol wußte, wozu die Alraune angewendet werden konnte. Es gab so unendlich viele Möglichkeiten. Als Liebeskraut zum Beispiel. Oder um Feinden zu schaden. Oder um dem Besitzer zu Reichtum zu verhelfen.
    Ein dünner Lederriemen war an der Alraune befestigt. Sie nickte. Nun gehörte sie ihr, nun konnte sie sie dafür benutzen, wofür sie gedacht war.
    Sie richtete den Lederriemen und hängte sich die Alraune so um den Hals, daß man sie nicht sehen konnte. Sie fühlte sich an der Haut auf der Brust schwer und steif an. Sol erschauerte. Die Alraune fühlte sich wie ein Lebewesen an. Doch sie gewöhnte sich schnell daran, sie am Körper zu tragen. Nun wurde sie von dem mächtigsten Amulett, einem Talisman beschützt, der auf der Welt das meiste Glück brachte. Das vermittelte ihr ein Gefühl der Sicherheit - und ein wenig auch ein Gefühl von Feierlichkeit.
    Dag war bereits in Kopenhagen. Es würde eine Freude sein, ihn wiederzusehen. Er studierte an der Universität, wollte Rechtsgelehrter werden, so daß er später eine gute Stellung bekommen würde, wenn er wieder nach Norwegen zurückkehrte.
    Dag war seit anderthalb Jahren in Dänemark. Zu Hause vertraute man darauf, daß er Sol unter seine Fittiche nahm. Vielleicht konnte diese Reise doch etwas Gutes bringen, eine gute Stellung oder nützliche Kontakte vielleicht? Unter nützlichen Kontakten hatte Silje sich eine passende Heirat vorgestellt, romantisch wie sie war. Dag könnte Sol den richtigen Leuten vorstellen, bei Hof und in anderen vornehmen Gesellschaften. Sie wußten, daß viele seiner Kommilitonen von hoher Geburt waren.
    Einen Monat lang sollte sie bei ihm bleiben. Danach mußte sie wieder nach Hause.
    Sol kicherte, während sie weiter durch den seufzenden, stürmischen Wald eilte. Doch, es war angenehm, den Stiefbruder vor Ort zu haben. Aber die »richtigen Kreise«? Die mußte sie doch selbst finden und wählen!
    Aber… dennoch. Der Hof war nicht zu verachten. Dort konnte es ja tolle Männer geben. Sol hatte sich auf ehrbarem Terrain gehalten, seit sie als Vierzehnjährige den Knecht Klaus verführt hatte. Jetzt, fand sie, war es an der Zeit für ein neues Abenteuer, die Sache mit Klaus war im Grunde ganz und gar unbefriedigend verlaufen, eher ein Eroberungstriumph, aber mehr nicht. Sie wußte, daß es im Verhältnis zwischen Mann und Frau noch viel spannendere Gefühle gab.
    Sie strich mit den Händen über ihren Körper. Doch, sie wußte, daß sie schön war. Allzu viele hatten es ihr gesagt. Arme Hanna, dachte sie plötzlich wehmütig.
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