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Die Saga vom Eisvolk 03 - Abgrund

Die Saga vom Eisvolk 03 - Abgrund

Titel: Die Saga vom Eisvolk 03 - Abgrund
Autoren: Margit Sandemo
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Nie hatte sie Sols Möglichkeiten besessen. Häßlich, so häßlich war sie, daß die Leute vor ihr zurückwichen, und wie einsam und abgeschieden sie in dem kleinen Bergtal war…
    Sol hatte das ganze Leben vor sich, die ganze Welt lag ihr zu Füßen!
    Und wahrhaftig - sie würde ihre Gaben nutzen!
    Zu Hause waren alle über ihre Abreise betrübt. Sie wußten jedoch, daß Sol die Freiheit brauchte, um nicht zu ersticken. Das vergangene halbe Jahr war sie recht anstrengend gewesen - ungeduldig und sehr leicht reizbar, das wußte sie. Tengel und Silje hatten sie beim Abschied fest an sich gedrückt. Und der kleinen Schwester Liv hatten Tränen in den Augen gestanden. Charlotte von Meiden war unten auf Gut Lindenallee gewesen, um Abschied von ihr zu nehmen, mit vielen Grüßen an den geliebten Sohn Dag.
    Und so waren sie und Are die Allee, Siljes Lindenallee, hinunter geritten,.
    In der Allee fehlte ein Baum. Ein Baum war vertrocknet und abgestorben, und Tengel hatte ihn fällen müssen. Es war der Baum der verwitweten Baronin. Die alte Dame war verstorben, nun lag sie auf dem Friedhof von Grästensholm begraben.
    Tengel hatte an der Stelle des alten Baumes eine neue kleine Linde gepflanzt. Sol erinnerte sich gut an diesen Tag. An Siljes seltsame Wut.
    »Du darfst nicht noch mehr Bäume besprechen, Tengel«, hatte sie gesagt, während sie am ganzen Körper zitterte. »Ich ertrage diese ständige angespannte Aufmerksamkeit wegen der Bäume nicht länger.«
    »Sie waren eine Hilfe für mich«, hatte er sich verteidigt. »Du weißt, daß ich durch sie versteckte Krankheiten aufdecken konnte.«
    »Ja, das weiß ich, aber sie machen mir Todesangst! Sehe ich ein vergilbtes Blatt oder einen abgebrochenen Zweig, dann bin ich voller Furcht und Schrecken.«
    »Wie du willst«, hatte Tengel gesagt. »Ich verspreche dir, daß ich keine Bäume mehr besprechen werde. Wir haben ja auch keine neuen Familienmitglieder, denen wir sie zueignen könnten.«
    »Nein, aber unsere vier Kinder sind allmählich erwachsen geworden. Wir können schon in ein, zwei Jahren Enkelkinder bekommen.«
    Tengel hatte sich bereitwillig einverstanden erklärt, die neuen Bäume einfach Bäume sein zu lassen.
    Der Wald öffnete sich vor einem kleinen Dorf. Der Meeresduft im Wind verriet Sol, daß sie sich dem Fjord näherte. In weiter Ferne erkannte sie schemenhaft den Rauch vieler Häuser. Das mußte Oslo sein - weiter fort die Festung Akershus.
    Es war früh im Morgengrauen. Der Mond war nach und nach verblaßt, in gleichem Maße wie der Lichtstreif am Horizont stärker und breiter anwuchs. Nachdem sie aus dem Wald gekommen war, kam es Sol vor, als läge die Stadt in einem flimmernd grauen Schein, und nach dem Rauschen in den Baumkronen war die plötzliche Stille auf ihre Weise ohrenbetäubend.
    Sie ging mit leichten, raschen Schritten an den niedrigen Häusern vorbei, die noch nicht zum Leben erwacht waren. Allein das Rauschen des Windes im Gras brach die überwältigende Stille. Sol langte am Kirchplatz an und blieb stehen. Ungeduldig strich sie sich die langen, schwarzen Locken zurück, die der Wind ihr ins Gesicht geblasen hatte. Für einen Augenblick stand sie still, schaute sich um und drehte sich ein paar Mal. Sie erblickte einen Pranger, einen Stäuppfahl und eine Stätte, an der Menschen gesteinigt wurden. Weiter fort stand ein Hauklotz. Darauf hatten Verbrecher ihren Kopf für die Axt zurecht gelegt. Ein leerer Galgen befand sich etwas davon entfernt, aber für die Kirchgänger dennoch gut sichtbar.
    Das alles sah sie. Doch Sol war imstande, darüber hinaus noch viel mehr wahrzunehmen. Sie stand reglos da - nun dem Wind zugewandt, so daß ihr Haar nicht mehr vor Augen herum flatterte. Verwundert entdeckte sie, wieviel sie tatsächlich wahrnehmen konnte. Sie spürte die Angst, den Todesschreck all derer, die hier ihr Leben hatten lassen müssen. Sie spürte die Schmach wie einen flüssigen Dunst um den Pranger schweben, sie nahm die Trauer der Angehörigen wahr, die Neugier der Schaulustigen, die Schadenfreude und den geifernden Sensationshunger. Sol hatte vor den Toten keine Angst. Einmal hatte sie, obwohl sie sich selbst nicht mehr daran erinnern konnte, laut aufgelacht, als sie einen Leichnam erblickte, der schaukelnd an einem Galgen hing. Silje hatte es irrtümlicherweise als die Unwissenheit eines Kindes aufgefaßt. Die Nacht, die Dunkelheit und der Tod waren Sols Welt. Der Name Sol, Sonne, den sie zu ihrem Schutz erhalten hatte, war ihr nicht
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