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Die Saga vom Eisvolk 01 - Der Zauberbund

Die Saga vom Eisvolk 01 - Der Zauberbund

Titel: Die Saga vom Eisvolk 01 - Der Zauberbund
Autoren: Margit Sandemo
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es war. Armes kleines...
    Nein, nein!
    In einer Seitenstraße erkannte sie schemenhaft ein junges Mädchen, beinahe ein Kind, und zog sich schnell in einen Torweg zurück. Das Mädchen ging dort drüben vorüber, ohne sie gesehen zu haben. Wie einsam sie aussah! Charlotte empfand herzzerreißendes Mitleid und richtete sich auf. Mitleid war ein Gefühl, das sie auf gar keinen Fall aufkommen lassen durfte. Nur nicht schwach werden!
    Sie musste sich beeilen, musste wieder zurück durch das Tor, bevor es um neun Uhr geschlossen wurde. Sie hatte keine Angst vor dem Torwächter, sie hatte sich eine Erklärung zurechtgelegt – für den Fall, dass er fragen sollte. Und der Umhang, den sie sich übergeworfen hatte, gehörte einer der Dienerinnen. Niemand würde darin das vornehme Fräulein Charlotte wiedererkennen.
    Endlich, da war das Tor. Doch der Wächter hielt sie an. Sie hielt ihm kurz das Bündel hin und murmelte: »Totes Kind. Soll es hinaustragen zum...«
    Der Torwächter winkte sie weiter, ohne noch etwas zu ihr zu sagen.
    Sie sah schon den Wald vor sich, die spitzen Tannenwipfel zeichneten sich vor dem Feuerschein ab. Auch der Mond schien an diesem eiskalten Abend, sodass der Weg nicht schwer zu finden war. Wenn sie nur nicht so erschöpft gewesen wäre! Schmerzen hatte sie außerdem, und ab und zu spürte sie mit Entsetzen, wie eine warme, feuchte Flüssigkeit das Handtuch durchnässte, mit dem sie ihre Blutung zu stillen versucht hatte.
    Sie hatte das Kind auf dem Heuboden über dem Stall zur Welt gebracht; sie hatte sich ein Holzstück in den Mund gesteckt, um nicht zu schreien. So hatte sie lange, lange Zeit erschöpft dagelegen, ohne einen Blick auf das Kind zu werfen, dann hatte sie es eingepackt und war mit schwankenden Beinen aufgestanden. Um die Nabelschnur hatte sie sich keine Gedanken gemacht, sie hatte mit diesem Kind nichts zu schaffen, fand sie. Das leise, klägliche Wimmern hatte sie mit einem Tuch gedämpft.
    Es lebte immer noch, hin und wieder nahm sie eine schwache Bewegung wahr. Gut, dass es beim Torwächter nicht geschrien hatte!
    Sie war sich sicher, dass sie auf dem Heuboden alle Spuren beseitigt hatte. Wenn sie doch nur die Bürde der Schande loswerden und dann ungesehen in den Palast zurückkehren könnte. Dann würde sie frei sein, frei! Endlich!
    Nun war sie tief genug im Wald. Da drüben, unter der hohen Tanne, weitab vom Weg...
    Charlotte von Meidens Hände zitterten, als sie das Bündel auf dem hart gefrorenen, schneefreien Boden ablegte. Mit Tränen in den Augen wickelte sie den kleinen Körper vorsichtig erst in ein Wolltuch und dann in einen Schal. Dann stellte sie eine mitgebrachte Schüssel Milch neben die Wange des Kindes. Tief in ihrem Herzen wusste sie sehr wohl, dass das Kind niemals an die Milch gelangen könnte, aber darüber wollte sie nicht weiter nachdenken.
    Sie blieb einen Augenblick lang stehen. Ein unerwartetes, grenzenloses Gefühl von Verlust und Verzweiflung durchfuhr sie. So wankte sie auf frierenden Beinen wieder der Stadt zu.
     
    Silje wanderte weiter, dankbar für den Mondschein, der ein schwaches Licht auf die Straße warf, sodass sie besser sehen konnte, wohin sie trat, und allen hervorspringenden Erkern und seltsamen Anbauten ausweichen konnte. Schritt für Schritt setzte sie einen Fuß vor den anderen, halb schlafwandelnd, monoton und ohne nachzudenken. Denn wenn sie es getan hätte, dann hätte sie die Kälte, den Hunger, die Müdigkeit und die Gewissheit gespürt, dass sie kein Ziel, keine Zukunft hatte.
    Da weinte jemand in ihrer Nähe.
    Sie blieb stehen. Auf ihrem Weg zum westlichen Stadttor war sie in ein kleines Gässchen geraten.
    Alles in dem Gässchen war so finster, das Mondlicht reichte nicht bis hier herunter. Das Weinen kam aus einem Hinterhof. Ihr Blick fiel auf eine halb offene Tür.
    Es war ein Kind, das weinte. Bitterlich und
herzzerreißend.
Silje ging zögernd in den Hof.
    Dort war es heller. In dem kleinen, offenen Hof, der von niedrigen Häusern umgeben war, hatte der Mondschein größere Kraft.
    Ein kleines Mädchen von zwei Jahren kniete neben einer toten Frau. Das Kind zerrte an der Mutter, um sie wieder aufzuwecken.
    Silje war selbst noch ein Kind, zugleich aber war sie auch eine kleine Frau. Beim Anblick des kleinen Kindes ergriff eine seltsame Rührung ihr Herz, während sie gleichzeitig vor der Toten zurückwich. Das Gesicht, der Schaum vor dem Mund, alles deutete mit grausamer Deutlichkeit darauf hin, dass die Pest zugeschlagen
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