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Die Saat der Bestie (German Edition)

Die Saat der Bestie (German Edition)

Titel: Die Saat der Bestie (German Edition)
Autoren: Michael Dissieux
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und vereinen. Dann verschwindet die zweite Frau. Die Erste beginnt, Kleider in eine Tüte zu packen und greift nach ihrem Gewehr, das neben dem Spiegel steht.
    Es wird Zeit, abzuhauen.
    Ich schlage mit der flachen Hand gegen das Glas der Scheibe, spüre die Vibration. Einmal nur möchte ich die Frau berühren. Doch ich schleiche gebeugt, mit hängenden Armen, um das Gebäude herum und verschmelze mit den Schatten eines unbebauten Grundstücks, das sich an das Geschäft anschmiegt. Dort, inmitten von verbogenen Eisenstangen, Steintrümmern und verrottetem Papier, beobachte ich kauernd und sabbernd, wie die Frau das Haus verlässt, das Gewehr in einer Hand, die Tüte in der anderen.
    Die Hose, die sie nun trägt, ist eng und betont ihre langen Beine. Ihre Bluse leuchtet wie Schnee in der Nacht. Sie ist wahrhaftig ein Engel, den es zu schänden gilt.
    Ich werde zum dritten Mal hart, stoße ein klägliches Heulen aus. Die Frau wirbelt herum, starrt mich direkt an und dreht sich dann einmal im Kreis. Mit fließenden Bewegungen springe ich über das leere Grundstück zu einer alten Steinmauer, die einen Garten begrenzt und vor der ein Stapel alter Autoreifen liegt. Papier raschelt unter meinen nackten Füßen, Steine poltern. Mein Atem wird zu wildem Keuchen. Dann werde ich zur Nacht. Die Frau bleibt alleine auf der Straße zurück.

    ***

    David weiß, dass es Samstag ist. Er hat einen Kalender, streicht jeden einzelnen Tag an. Warum er das tut, weiß er nicht. Vielleicht wird es eines Tages wichtig sein zu wissen, welcher Tag ist. Außerdem denkt er, dass es ihm das Sterben erleichtert, wenn er weiß, an welchem Tag es ihn erwischt.
    Er hat sich schon oft vorgestellt, dass er an Weihnachten sterben möchte. Als Kind hat er das Fest geliebt. Die erhabene Stille, die sich über das Land senkt, die Weihnachtslieder, die seine Mutter während des Backens leise summt, und der verführerische Duft, der das ganze Haus erfüllt, wenn sie am Abend Plätzchen und Lebkuchen aus dem Ofen nimmt und in eine große Blechkiste mit weihnachtlichen Motiven füllt.
    Solche Tage haben stets einen eigenen Zauber auf David ausgeübt und ihn die Schrecken einer Welt, in der er scheinbar keinen Platz finden konnte, und seinen tyrannischen Vater vergessen lassen. Er ist ein anderer Mensch an diesen Tagen gewesen; fröhlicher, ruhiger und freier.
    Er findet, dass die Heilige Nacht eine ausgezeichnete Wahl wäre, sein letzter Tag auf dieser Erde zu sein. Doch bis dahin würden noch viele Tage vergehen müssen, einer wie der andere. Es macht keinen Unterschied mehr. Am Morgen wird es hell und am Abend dunkel. Und dazwischen … dazwischen versucht David, jeden gottverfluchten Tag zu überleben und sich in Gedanken bereits auf Weihnachten zu freuen. Er würde der Heiligen Nacht seinen eigenen, verführerischen Duft schenken, doch erst einmal streicht er den Samstag im Kalender durch, den dritten im August.
    Als er die Rollläden öffnet, streicht der Tag wie ein glühender Fächer durchs Fenster und zeichnet helle und dunkle Streifen auf den Teppich. Dazwischen tanzen Staubflocken.
    Wie an jedem Morgen steht David auf der rechten Seite des Fensters und sieht in den Vorgarten hinaus. Früher einmal blühten Rosenbüsche und Blumen, deren Namen er nicht kannte, vor dem Haus und verströmten ihren süßen Duft. Die Blumen sind Darleens Werk gewesen. Sie hat ein Händchen dafür besessen und den kleinen Garten in jedem Sommer in eine kleine, bunte Oase verwandelt. David hat ihr oft dabei zugesehen, einfach nur, um sie anzuschauen. Ihr Haar, das im Sommerwind glänzte, und ihre Augen, die den Sonnenschein einfingen und tausendfach widerspiegelten. Davids Beitrag zu ihrer kleinen Insel hat darin bestanden, die einzelnen Büsche und Blumenbeete mit flachen Steinen miteinander zu verbinden, damit Darleen zwischen den farbigen Büschen umherhuschen konnte.
    Diese Tage waren mit nichts auf der Welt zu vergleichen. Sie sind Davids liebste Erinnerungen geworden. Bilder, die er oft in den Nächten aus seiner kleinen Schatzkiste hervorkramt und betrachtet, während sein Herz zu zerspringen droht.
    Die Sommer mit Darleen würde es nie wieder geben. Die Sonne würde sich nicht mehr in ihren Augen spiegeln und sie würde ihm auch nicht mehr zu erklären versuchen, durch welche Züchtungen manche ihrer Blumen entstanden sind. Auch ihre Erzählungen über die Großmutter, die ihr all das Wissen über Blumen vererbt hat, sind für immer verstummt.
    Seine Erinnerungen
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