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Die russische Gräfin

Die russische Gräfin

Titel: Die russische Gräfin
Autoren: Anne Perry
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klein wenig und begann mit ihrer tiefen, klaren und einzigartig schönen Stimme:
    »Vor dem Unfall verbrachten wir unsere Zeit mit den üblichen Zerstreuungen einer Landgesellschaft. Wir standen auf, wann es uns beliebte. Da es Frühling und gelegentlich noch recht kalt war, kamen wir oft erst herunter, wenn die Bediensteten eingeheizt hatten. Gisela frühstückte ohnehin immer in ihrer Suite, und Friedrich blieb meistens oben, um ihr Gesellschaft zu leisten.«
    Zwei Geschworene verzogen amüsiert das Gesicht, bissen sich aber sogleich auf die Lippen und liefen vor Verlegenheit rot an.
    »Nach dem Frühstück unternahmen die Herren einen Waldspaziergang oder Ausritt. Bei schlechtem Wetter unterhielten sie sich im Raucherzimmer, spielten Billard, gingen in die Waffenkammer oder zogen sich zum Reden in die Bibliothek zurück. Rolf, Stephan und Florent sprachen ziemlich oft miteinander. Die Damen gingen bei schönem Wetter viel im Garten spazieren, schrieben Briefe, malten, musizierten, lasen oder tauschten Erzählungen und Klatsch aus.«
    Gemurmel erhob sich im Saal, vielleicht aus Neid.
    »Manchmal machten wir zur Mittagszeit ein Picknick. Die Köchin packte uns alles in einen Korb, und ein Diener brachte es uns in einem Wägelchen. Wir ließen es uns auftragen, wo es uns gerade gefiel: an einem Flußufer, auf einer Lichtung oder auf einem offenen Feld im Schatten einer Baumgruppe.«
    »Das klingt ja sehr reizvoll«, bemerkte Rathbone.
    Harvester löste sich von seinem Stuhl. »Aber irrelevant, Eurer Ehren. Die meisten von uns wissen bereits, wie die Wohlhabenden ihre Freizeit auf dem Land verbringen. Gräfin Rostova wird doch bestimmt nicht unterstellen wollen, daß diese Lebensweise zum Tod des Prinzen geführt hat.«
    »Ich werde nicht zulassen, daß unsere Zeit über Gebühr verschwendet wird, Mr. Harvester«, brummte der Richter.
    »Aber ich möchte Gräfin Rostova noch etwas mehr Raum für ihre Schilderung zugestehen, damit wir uns ein genaueres Bild als bisher von diesem Haus machen können.« Er wandte sich an die Zeugin. »Fahren Sie bitte fort, Ma’am. Aber vergessen Sie nicht, wir erwarten, daß es sich auf den Tod des Prinzen bezieht.«
    »Das ist bereits der Fall, Euer Ehren«, entgegnete Zorah ernst.
    »Wenn ich noch einen Tag detailliert beschreiben darf, wird der Zusammenhang für jedermann erkennbar. Verstehen Sie, nicht ein bestimmter Vorfall im Haus war die Ursache, sondern eine Vielzahl von kleinen Begebenheiten, die sich im Laufe der Jahre zu einer gewaltigen Last anhäuften, die zu schultern der Wille fehlte.«
    Der Richter wirkte etwas verwirrt, und die Geschworenen schienen überhaupt nichts mehr zu verstehen.
    Harvesters Blick wanderte von Zorah zu Rathbone und schließlich zu Gisela. Die saß bleich und wie festgefroren auf ihrem Stuhl.
    Der Richter nickte. »Fahren Sie fort, Gräfin Rostova.«
    »Es war vor dem Unfall; ich weiß nicht mehr, wie viele Tage, aber das ist nicht von Belang«, erklärte Zorah, ohne jemand Bestimmten anzusehen. »Es war naß, und es ging ein heftiger Wind. Ich war früh aufgestanden und schon im Garten gewesen. Ich habe nichts gegen Regen. Die Narzissen waren wunderschön! Haben Sie schon mal nasse Erde nach einem Regenschauer gerochen?« Sie schien sich direkt an den Richter zu wenden, wartete aber nicht dessen Antwort ab. »Gisela stand wie immer spät auf, und Friedrich kam mit ihr herunter. Er ging so dicht hinter ihr, daß er ihr versehentlich auf den Rocksaum trat, als sie in der Tür zögerte. Sie fuhr herum und sagte etwas zu ihm. Ich kann mich nicht genau an die Worte erinnern, aber sie war verärgert. Die Situation war etwas peinlich, weil sich Brigitte von Arlsbach und Lady Wellborough im Zimmer aufhielten.«
    Rathbone atmete tief durch. Er sah, daß die Geschworenen angewidert den Mund verzogen, wußte aber nicht, wem das nun galt. Wem glaubten sie? Zorah oder Gisela? Hoffentlich hatte Hester recht! Alles hing von diesem einen Umstand und den Schlußfolgerungen, die sie daraus gezogen hatte, ab.
    »Bitte fahren Sie fort, Gräfin Rostova«, sagte er mit brüchiger Stimme. »Der Rest dieses typischen Tages bitte.«
    »Brigitte ging zum Lesen in die Bibliothek. Ich glaube, allein war sie immer ganz glücklich. Lady Wellborough und Evelyn von Seidlitz verbrachten den Vormittag im Boudoir. Ich könnte mir vorstellen, daß sie plauderten. Sie klatschen für ihr Leben gern. Gisela bat Florent, sie ins Dorf zu begleiten. Das wunderte mich allerdings, denn es
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