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Die russische Gräfin

Die russische Gräfin

Titel: Die russische Gräfin
Autoren: Anne Perry
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besser geschützt werden; zugleich ging es den Behörden darum, einen Aufstand zu verhindern, falls die Emotionen hochzuschlagen drohten.
    Auch drinnen waren die Leute ruhig. Die Geschworenen wirkten samt und sonders bedrückt, als graute ihnen vor der Pflicht, eine Entscheidung zu treffen, für die sie nach wie vor keine unwiderlegbaren Beweise erkennen konnten. Für einige von ihnen war in den letzten Tagen eine Welt zusammengebrochen. Was sie ein Leben lang geglaubt hatten, sollte auf einmal nicht mehr stimmen! Sie waren zutiefst verunsichert angesichts dieser Bürde, der sie nun nicht mehr ausweichen konnten.
    Rathbone hatte unverhohlene Angst. In der Nacht hatte er wenig Schlaf gefunden. Immer wieder war er hochgefahren, um dann eine Zeitlang im Zimmer hin und her zu gehen oder zur Decke zu starren und seine Gedanken zu ordnen, Argumente und mögliche Gegenargumente bei Einwendungen zu sammeln und sich zu überlegen, wie er sich selbst schützen konnte, denn der Zorn der Menge würde zwangsläufig auch ihm entgegenschlagen. Nur allzu lebhaft erinnerte er sich an die Warnung des Lord Chancellors. Und es fiel ihm nicht schwer, sich seine Reaktion auszumalen. Doch Rathbone wußte, daß er nicht anders handeln konnte. Zum erstenmal seit zwanzig Jahren hatte er keine klaren Vorstellungen von seiner beruflichen Zukunft.
    Die Verhandlung war bereits eröffnet worden. Der Richter sah ihn an und wartete.
    »Sir Oliver?« Seine Stimme war klar und freundlich, aber Rathbone wußte aus Erfahrung, daß sich hinter dem gütigen Gesicht ein eiserner Wille verbarg.
    Rathbone mußte seine Entscheidung jetzt treffen, oder er gab den Fall aus den Händen.
    Er erhob sich mit so heftig pochendem Herzen, daß er fast glaubte, jeder müßte sehen, daß er am ganzen Körper zitterte. Noch nie war er vor einem Gericht so nervös gewesen. Freilich hatte ihm auch noch nie eine Katastrophe so dicht vor Augen gestanden. Und was hatte er früher denn schon zu verlieren gehabt?
    Er räusperte sich. Wenn er sprach, dann mußte er das mit klangvoller Stimme tun. Die hatte schon immer zu seinen besten Waffen gehört.
    »Euer Ehren…« Wieder mußte er sich räuspern. Verflucht! Harvester wußte bestimmt längst, was für Ängste er ausstand. Er hatte noch gar nicht angefangen, und schon hatte er sich verraten! »Euer Ehren, ich rufe Gräfin Zorah Rostova auf.«
    Ein erstauntes Raunen ging durch den Saal. Sogar Harvester wirkte verblüfft, wenn auch nicht erschrocken. Vielleicht hielt er Rathbone für dumm, vielleicht wußte er, wie verzweifelt er kämpfte.
    Mit eigenartig eleganten Schritten marschierte Zorah über die kleine freie Fläche zur Treppe zum Zeugenstand. Man hätte meinen können, sie bewege sich in der freien Natur und nicht in einem öffentlichen Saal. Daß sie einen Reifrock trug und keine Reiterhose, sah ihr niemand an. Im Vergleich zur zierlichen Gisela wirkte sie unfeminin, doch andererseits hatte sie absolut nichts Männliches an sich. Wie an den anderen Gerichtstagen auch hatte sie sich mit den herbstlichen Erdfarben Rot und Braun gekleidet, die ihrer dunklen Haut schmeichelten, aber dem düsteren Anlaß nun wirklich nicht angemessen waren. Vergeblich hatte Rathbone ihr zugeredet, sich bescheidener zu geben. Nun, jetzt hätte es keinen Sinn mehr, sich anzupassen. Niemand hätte ihr das abgenommen.
    Einen kurzen Moment lang sah sie zu Gisela hinüber, und die so verblüfften wie haßerfüllten Blicke der zwei Frauen begegneten sich, dann wandte sie sich schon wieder Rathbone zu.
    Mit fester Stimme wies sie sich aus und schwor, die Wahrheit und nichts als die reine Wahrheit zu sagen.
    Rathbone stürzte sich in die Vernehmung, bevor ihn der Mut verlassen konnte.
    »Gräfin Rostova, wir haben von mehreren Zeugen gehört, wie sie die Ereignisse in Wellborough Hall sehen oder bewerten. Nun, Sie haben gegen Prinzessin Gisela die schwerwiegendste Beschuldigung erhoben, die man gegen einen Menschen richten kann: daß sie ihren Mann kaltblütig ermordet habe, während er hilflos ihrer Pflege anvertraut war. Sie haben sich geweigert, diese Bezichtigung zurückzunehmen, obwohl Ihnen eine Verurteilung droht. Würden Sie dem Gericht bitte erklären, was Sie über die Ereignisse in der fraglichen Zeit wissen? Beziehen Sie alles mit ein, was Sie in bezug auf Prinz Friedrichs Tod für relevant halten, aber vergeuden Sie nicht Ihre Zeit oder die des Gerichts mit Belanglosem.«
    Zum Zeichen des Einverständnisses neigte Zorah den Kopf ein
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