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Die Runenmeisterin

Die Runenmeisterin

Titel: Die Runenmeisterin
Autoren: Claudia Groß
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gebrochenem Genick an einem Baum in irgendeinem Wald? Oder lag er verscharrt mit durchgeschnittener Kehle irgendwo in der Erde? Versenkt im Moor, aus dem nie wieder jemand lebend herauskam?

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    »Ein siebzehntes kann ich, das mich selten flieht,
die mädchenhafte Maid,
dieser Lieder wirst du Loddfafnir lange bar bleiben,
ist dirs heilsam auch, hörst du sie, nützlich,
vernimmst du sie, frommend, befolgst du sie.«

Die Stunden rinnen dahin. Das Wachs der Kerze tropft auf den Tisch, und durch das Fenster zieht der Wind. Draußen regnet es, löscht alle Feuer. Vom Lager drüben kommt kein Laut. Die Dänen und Wenden und Pommern sind abgezogen, und morgen wird auch der Kaiser weiterziehen. Das Ende des Krieges ist absehbar. Heinrich wird bitten und betteln müssen, um das Land, das ihm einst gehört hat, noch einmal durchqueren zu dürfen.
    Rosalie wartet auf Mara und die Alte. Seitdem sie bei ihnen Zuflucht im Wagenkreis der Frauen gefunden hat, fühlt sie sich sicherer. Die Soldaten sind am Nachmittag hiergewesen, aber sie haben den Wagen nicht durchsucht. Die Alte hat Sigrun gut gekannt, und Mara, die Tänzerin, hat das Gesicht und sagt die Zukunft voraus. Sie haben den Iren in den Sumpf gelockt und in einen Salzstollen gesperrt. Dort liegt er sicher in Freyas Armen und wird bis morgen schlafen. Mara hat von Van Neil gehört, daß der Ire seine Drohung wahr gemacht hat und etwas über Monreals Tod erzählen wollte. Aber Van Neil weiß nichts Genaues, er sucht die Wahrheit, und er sucht den Iren.
    Die Alte ist ein blutrünstiges Weib, sie hätte Cai Tuam am liebsten gleich im Moor versenkt wie einen alten Schuh. Aber Mara ist unschlüssig. Sie versenkt ihn lieber in einen schweren Traum, den Rosalie ihr zusammengemischt hat. Und Rosalie? Sie bangt um ihr Leben und ist froh, Frauen gefunden zu haben, die sie fürs erste schützen werden. So wie er sie einmal geschützt hat.
    Hat Sigrun gewußt, welches Unheil sie anrichten würde, indem sie ihre Tochter an diesem Morgen in den Wald schickte? »Geh, Kind«, hatte sie gesagt, »nimm die Armbrust, und tu, was getan werden muß.«
    Und Rosalie war gegangen.
    Niemand kann sich von dem Wort, das er einer Runenmeisterin gegeben hat, lossagen. Ebensowenig kann man sich von Sonne oder Mond lossagen.
    Unablässig denkt Rosalie darüber nach, ob sie irgendwann und irgendwo einen falschen Weg eingeschlagen hat. Wenn sie Zeitpunkt und Grund kennen würde, könnte sie sich aus ihrer mißlichen Lage vielleicht befreien, aber je mehr sie grübelt, desto verschwommener wird alles um sie her.
    An irgendeinem Punkt ihres Lebens hat sie den roten Faden, den die Nornen spinnen, verloren, und sie findet ihn nicht mehr wieder. Ihr ist, als würde er ihr vor Augen baumeln, aber jedesmal, wenn sie ihn ergreifen will, zieht er sich zurück und wird unerreichbar.
    Mara betrat den Wagen. Rosalie saß im Dunkeln, denn die Kerze war heruntergebrannt. Aber wozu Licht machen, wenn man doch nichts sieht?
    »Kommst du mit?« fragte Mara. »Ich tanze heute für einen Herren in der Stadt. Und morgen wird das Lager abgebrochen, sagen die Soldaten. Du wirst dich entscheiden müssen, wohin du gehst.«
    Nach Raupach konnte Rosalie nicht zurück. Aber wollte sie bei den Frauen bleiben? »Was ist mit ihm?« fragte sie.
    Mara lachte. »Oh, er schläft. Wir werden morgen entscheiden, was aus ihm wird. Du kannst nicht mehr zurück, Rosalie.«
    Rosalie ritt mit Mara in die Stadt. Und das war gut so. Sie ritten durch das Lager, in dem schon Aufbruchstimmung herrschte. Die meisten Zelte waren abgebrochen, und auch des Kaisers Zelt war fort. Zwischen dem Lager und der Stadtmauer lag ein Stück freies Feld. Schwarz ragten die Mauern auf. Ein Tor sei noch geöffnet, sagte ein Soldat, der den Frauen aus der Stadt entgegenkam. Von der Kirche tönte letztes Glockenspiel herüber, verlor sich hallend vor den Mauern der Stadt, die sie erreicht hatten. Aber das Tor war längst geschlossen. Mara wandte ihr Pferd, um zum Westtor zu reiten. Aber Rosalie zögerte. Da sah sie ihn. An der Ringmauer hing eine brennende Fackel und schien auf ihn herab.
    »Was ist?« rief Mara.
    Rosalie deutete auf den Galgen, den man direkt vor der Mauer aufgestellt hatte.
    »Ein Mörder«, sagte Mara ungeduldig, »der wurde heute morgen hingerichtet. Komm, Rosalie, ich bin spät dran.«
    Doch Rosalie rührte sich nicht von der Stelle. ›Der Balg‹, fuhr es ihr durch den Kopf. ›Wenn du Rat suchst, such ihn bei den Toten, den gehenkten
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