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Die Runenmeisterin

Die Runenmeisterin

Titel: Die Runenmeisterin
Autoren: Claudia Groß
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deine wirkliche Bestimmung, Urd. Skuld und ich werden lange fort sein, fort aus den Köpfen der Menschen und fort aus dieser Welt, du aber wirst wachen und warten, damit du da bist, wenn die Menschen dich rufen.«
    Skuld hatte recht. Sie, Urd, war unzufrieden, wenn sie sah, wie die anderen die Fäden von Jetzt und Gleich spannen, und sie danebensaß und nur die Last der Zeit auf den Schultern spürte. Aber sie allein hortete das alte Wissen auch dann noch, wenn Werdandi und Skuld längst verschwunden wären. Sie hatte immer gewartet.
    Wer unter den Menschen zu warten gelernt hatte, war ein Kind der Vergangenheit. Ihr Kind. Sie barg in ihrem Herzen die Last von einem Meer von Toten und würde wachen, bis die Menschen eines Tages wieder zu fragen begannen. Aber wie lange würde das dauern?
    »Es steht alles in den Runen«, bemerkte Werdandi spöttisch. Sie schaute wieder auf das Tuch hinunter. Sie wendete die gewendeten Runen und stürzte die auf dem Kopf stehenden Runen. So machte man aus der Nacht den Tag und aus der Sonne den Mond, so wurde aus einer Frau ein Mann und aus dem Kind ein Greis. So verkehrte sich die Welt und wurde zu ihrem Spiegelbild. Unten war oben, und links war rechts. Die Gegenwart wurde Vergangenheit und die Zukunft Gegenwart.
    »Hör auf damit«, murmelte Skuld, »das ist nicht gut. Du bringst alles durcheinander. Die Welt stimmt nicht mehr.«
    »Willst du nicht wissen, was aus dem Kind wird?« fragte Werdandi. Aber Skuld schüttelte den Kopf.
    »Nein, denn es ist nichts Gutes, Gegenwart, es ist nichts Gutes. Dieses Kind wäre besser nicht geboren worden, aber du wolltest es ja ins Leben bringen. Es ist eine Runenmeisterin und doch keine, es wird eine Ahnin der Wanen und doch keine, es steckt voller Möglichkeiten und gebiert doch nur Schatten und Luft. Es ist kein Halbes und kein Ganzes. Es ist das Unglück schlechthin. Es ist I SA , das Eis, der Stillstand, das Nichts.«
    »Aber I SA hat einen starken Willen, wie du weißt«, bemerkte Werdandi, stand auf und sah in den Brunnen. »Das Kind ist stark. Es wehrt sich gegen den Tod und deine dunklen Worte. Es will leben, und das wird es auch. Keine Rune dieser Welt wird es aufhalten. Es ist einfach da.«
    Urd nickte. »Ja. Jeder Mensch hat ein Recht darauf, Unglück in die Welt zu bringen. Wozu sollten wir sonst Runen werfen?«
    Skuld hörte ihnen nicht mehr zu. Der Regen wurde stärker und durchnäßte das Tuch. Sie sammelte hastig die Steine zusammen und verstaute die Runen in dem roten Beutel, faltete das Tuch sorgfältig und legte es unter das dichte Blattwerk der Esche.
    Urd war alt, und Werdandi war dumm, dachte Skuld. Doch auch sie würde den Platz räumen müssen unter der heiligen Esche, denn die Christen hatten eine Vorliebe dafür entwickelt, Bäume zu fällen, sie in tausend Stücke zu zerhacken und die Natur zu schänden. Die Christen haßten die Natur, ihre eigene und die um sie herum, denn die Natur war Sünde, auch wenn Gott sie erschaffen hatte. Skuld begriff das Wesen der Christen nicht, die sich jetzt ausbreiteten auf der Welt wie ein riesiger Hornissenschwarm. Eitrige Geschwüre hinterließen sie, wo sie hinkamen, verletzte Seelen, gepeinigte Geister und gebrochene Herzen.
    Skuld wußte alles, aber sie sagte nicht alles. Werdandi lebte nur von einem Augenblick zum anderen. Urd erschien ihr wie ein alter, greiser Bär hinter Käfigstäben. Und sie selbst würde vergehen, weil die Christen nichts von ihrer Existenz wissen wollten. So wie ein kleines Kind, das meint, wenn es den Kopf wegdreht, alles, was aus seinem Blickfeld verschwunden ist, sei auch wirklich nicht mehr da. Da war nur noch diese Sache mit der Runenmeisterin Tochter. Sie würde im Gebrauch der Runen unterrichtet werden, denn etwas anderes kannte die alte Sigrun nicht. Sigrun würde ihr Wissen weitergeben. Doch sie würde es in ein hohles Loch werfen, aus dem nichts wieder herauskam, was man einmal hineingeworfen hatte. Das Kind war klug, aber es lebte in der falschen Zeit.
    Skuld schauderte und ging zu den anderen zurück.
    Drei Nornen saßen an einem Brunnen und spannen.

ERSTER TEIL
FEHU
    À
     
    »Die Lieder kann ich,
die keine Königin weiß, und niemandes Nachkomme:
Hilfe heißt das erste,
es wird helfen dir in Not und Nachstellung.«

Anno domini 1179, Januaris
    Es wehte ein eisiger Wind über die Heide. Hier hatte er freies Feld bis hin zum Wald. Die Heide gehörte den Geistern, der Wald den Dämonen. Auf der Grenze zwischen Wald und Heide lag die Festung
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