Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Runen der Erde - Covenant 07

Die Runen der Erde - Covenant 07

Titel: Die Runen der Erde - Covenant 07
Autoren: Stephen R. Donaldson
Vom Netzwerk:
Schreibtisch gegenüber und forderte die Entlassung seiner Mutter. Wäre sie der Frauentyp gewesen, der die Torheit von Irregeleiteten amüsant fand, hätte sie ihm ins Gesicht gelacht. Woher nahm er nur diese Unverschämtheit?
    Teufel, wie kam er überhaupt auf diese Idee?
    »Tut mir leid.« Offenbar wollte er höflich sein. »Ich sehe das Problem noch immer nicht. Sie ist meine Mutter. Ich bin ihr Sohn. Ich bin bereit, mich um sie zu kümmern. Wie kann das Gesetz das verhindern wollen? Wie können Sie etwas dagegen haben, Doktor Avery? Ich verstehe nicht, weshalb sie nicht schon mit mir weggefahren ist.«
    Sie wandte sich kurz ab, um aus dem Fenster zu sehen. Es bot einen wenig erhebenden Ausblick auf den Parkplatz, auf dem ihre alte, verrostete Klapperkiste hockte und auf den Tag zu warten schien, an dem ihre Schweißnähte nachgeben würden, sodass sie endlich zu Schrott zusammensacken konnte. Sie hatte den Wagen nur behalten, weil er sie zu ihren ersten Begegnungen mit Thomas Covenant getragen hatte.
    Falls Roger nicht gehen wollte, konnte sie doch bestimmt einfach wegfahren? Zu ihrem Auto hinausgehen, den Motor mit Tricks in Gang bringen und zu Jeremiah heimfahren?
    Nein. Hätte sie eine Frau sein wollen, die die Flucht ergriff, wenn ihre Arbeit einmal schwierig war, hätte sie sich ein zuverlässigeres Auto kaufen sollen.
    Aus alter Gewohnheit hob sie eine Hand, um den harten Kreis von Covenants Ring unter ihrer Bluse zu berühren. Dann wandte sie sich seufzend wieder seinem Sohn zu.
    »Ich will versuchen, mich deutlich auszudrücken. Was Sie verstehen oder nicht, ist nebensächlich. Hier geht es um Folgendes: Solange und bis Sie mir eine von einem Richter unterzeichnete gerichtliche Anordnung bringen, dass ich Joan Covenant in Ihre Obhut entlassen soll, bleibt sie, wo sie ist. Ende der Diskussion.« Sie sah ihn erwartungsvoll an. Als er auf den Wink nicht reagierte, fügte sie hinzu: »Das ist das Stichwort für Ihren Abgang, Mr. Covenant.«
    Verstehen Sie nicht, dass Sie nicht der einzige Mensch sind, der sich etwas aus ihr macht?
    Im Grunde bezweifelte sie, dass Roger Covenant sich überhaupt etwas aus seiner stummen Mutter machte. Seine gleichgültige Art und der schlummernde Wahnsinn oder die prophetische Gabe in seinem Blick vermittelten einen ganz anderen Eindruck.
    Er hatte ihr erklärt, er habe Joan nicht schon früher abgeholt, weil er nicht alt genug gewesen sei. Aber gestern sei er einundzwanzig geworden. Nun sei er bereit. Trotzdem hegte Linden intuitiv die Überzeugung, er verfolge irgendeinen geheimen Zweck, der stärker als Liebe oder Fürsorge war.
    In seiner unbeirrbaren Hartnäckigkeit erinnerte er sie an einige der glaubwürdigeren Psychopathen, die sie in ihrer Dienstzeit als Chefärztin im Berenford Memorial Psychiatric Hospital kennengelernt hatte. Aber vielleicht litt Roger Covenant an keiner schlimmeren Krankheit als hoffnungslosem Narzissmus, was bedeutete, dass er ihr nur die Wahrheit gesagt hatte. Er konnte ›das Problem nicht sehen‹.
    Diesmal aber musste etwas in ihrem Tonfall – oder den widersprüchlichen Feuern, die in ihrem Blick aufzuflackern begannen – sein eigenartiges Sendungsbewusstsein durchdrungen haben. Bevor sie ihm drohen konnte, den Sicherheitsdienst zu verständigen, erhob er sich, als hätte er endlich verstanden.
    Augenblicklich erhob sich auch Linden. Nun sah sie, dass er ein bis zwei Zoll kleiner als sein Vater und deutlich stämmiger war. Auch aus diesem Grund würde er niemals jene besondere Hagerkeit, jene scharfe und eklatante Zielstrebigkeit – bar jeder Kompromissbereitschaft oder der Fähigkeit, sich zu ergeben – an den Tag legen, die Thomas Covenant für sie unwiderstehlich gemacht hatten.
    Er würde niemals der Mann sein, der sein Vater gewesen war. Er hatte zu viel von seiner Mutter an sich. Seine Haltung verriet ihn: die lichte Schlaffheit seiner Schultern; die Anspannung, die fehlenden Gleichgewichtssinn kompensierte. Seine Arme schienen ein Grab unbeendeter Gesten zu sein, vorzeitig abgebrochener Appelle oder Beteuerungen von Ehrlichkeit. Unter all seiner Hartnäckigkeit erahnte Linden Joans Schwäche, unglücklich und im Wesentlichen verraten.
    Vielleicht hatten seine wahren Wünsche nichts mit seiner Mutter zu tun. Vielleicht wollte er sich lediglich als seinem Vater ebenbürtig erweisen. Oder ihn ausstechen ...
    Als Roger sich erhob, gestand er seine Niederlage jedoch nicht ein. Stattdessen fragte er: »Kann ich sie sehen? Das letzte Mal
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher