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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen
Autoren: Minelli Michele
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von ihr wissen, wie denn nun dieses geheimnisvolle Paket an sie gelangt sei.
    »Das ist es ja, was kaum zu glauben ist. Das Wunder.« Und sie erzählte in aufgeregten Worten, die hektisch zwischenihren Lippen durchflatterten und nach Raum suchten, Halt und Glaube, die Geschichte, die sich dahinter verbarg. Offenbar hatte der damalige Besitzer des Hauses am Hinteren Tor 1 es nicht für wichtig gehalten, auf ihr Schreiben zu reagieren. Oder er hatte noch nichts von dem Wachstuchheft gewusst, das sich zweifelsohne bei ihm auf dem Dachstock, im Keller oder weiß der Gugger wo befunden hatte und seit Jahrzehnten seiner Entdeckung harrte. Den Brief, den Aude ihm geschickt hatte, musste er aber behalten haben. Denn als er vor kurzem verstarb und seine Söhne das Haus mitsamt Hausrat räumten, gerieten ihnen sowohl Audes Schreiben als auch das Wachstuchheft in die Hände. Eigentlich hätten sie da Aude das Heft schon schicken können, aber, wenn Aurelio einmal nachschauen wollte, auf dem Brief, den Alžbeta Csöke ihrem Sohn geschrieben hatte, standen auch Adresse und Namen ihrer Familie in Kassa, und das machte die Hauserben eben stutzig. Unschlüssig, was damit zu tun wäre und wem man das Heft nun geben sollte, warteten sie wiederum einen Monat oder zwei ab. Da sich die Angelegenheit nicht von sich aus löste, man das Heft und den Brief mit der Anfrage aber auch nicht mehr länger bei sich behalten wollte, nahm sich der älteste Erbe schließlich der Sache an. Er war Jurist und gewohnt, endgültige Entscheidungen anderen zu überlassen, die es besser wussten. Als er nämlich im Internet nicht fündig wurde, keine eindeutige Adresse eines Csöke oder einer Csöke in Košice ausmachen konnte, setzte er sich mit einem Genealogen aus Košice in Verbindung, tätigte eine entsprechende – bescheidene – Überweisung und verschickte das Heft sowie Audes Brief dorthin. Mochte dieser schauen, was damit zu tun wäre, er und seine Brüder wären die Angelegenheit nun jedenfalls los.
    Der Genealoge seinerseits nahm den Auftrag ernst und ermittelte innert Tagesfrist einen Nachfahren aus der Liniedes einstigen Adelsgeschlechts Csöke, den über achtzigjährigen Jozef Št’astný.
    Wie ein Triumphbanner wedelte Aude nun mit einem zweiten Brief, den sie aus ihrer Manteltasche zückte, und Aurelio horchte auf.
     
    Sehr geehrte Aude Senigaglia
    Ich weiß nicht, wer Sie sind, und mein Großvater weiß es auch nicht. Aber es macht den Anschein, dass er glaubt, Sie seien mit uns verwandt. Mein Großvater ist dreiundachtzig, müssen Sie wissen, und nicht mehr ganz alles, was er erzählt, stimmt auch mit der Realität überein. Aber das ist nicht, was er mich gebeten hat, Ihnen zu schreiben.
    Hier also nun sein Brief, aufgenommen nach Diktat und auf Deutsch übersetzt nach bestem Wissen und Gewissen.
     
    Sehr geehrte junge Dame, liebes Kind
    In meinem Besitz befindet sich etwas, das für dich von Interesse sein könnte. Es ist ein uraltes Fotoalbum, das meine Familie zeigt, meine Vorfahren und all die unzähligen Tanten und Großonkel, auf Festen, auf Jagdgesellschaften, beim Picknick an unserem schönen Fluss Hornád. Erlaube mir, anzufügen, dass es sich um ein sehr großes Album handelt, mit Fotos, deren Anzahl sich beständig ändert und auf mysteriöse Weise vermehrt, jedes Mal, dass ich sie neu zu fassen versuche.
     
    Einschub durch die Enkeltochter: Dies ist, was ich vorhin meinte. Ich selbst schätze die Anzahl auf über zweihundert, aber ich muss zugeben, ich habe sie auch nicht alle einzeln gezählt.
     
    Soviel ich deinem Anschreiben entnehme, das mir meine liebe Enkelin eigens für mich in unsere wunderschöne slowakische
Sprache übersetzt hat, bist du, geschätzte Unbekannte aus der Schweiz, engagiert, die Linien deiner Vorfahren zu erfassen. Dazu gehören auch wir. Slowaken aus dem schönen Košice.
    Kennst du die Slowakei? Ihre Geschichte? Wir haben einen ganz wunderbaren singenden Brunnen in unserer Stadtmitte, an der Hlavná ulica, das ist unsere linsenförmige Hauptstraße, und überhaupt viele wichtige Sehenswürdigkeiten, die gibt es nur bei uns. Der Alžbety-Dom ist die größte Kirche der gesamten Slowakei, und ja, auch die steht hier bei uns. Unsere Glockengießer und Goldschmiede sind weltberühmt.
    Aber bitte. Wenn du mir nicht glaubst, komme und sieh selbst. Als Beweis meiner Aufrichtigkeit lege ich dir ein Wachstuchheft bei, da du ja ganz offenkundig ein Interesse daran haben wirst. Solche Hefte gab es in
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