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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen
Autoren: Minelli Michele
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damalige Besitzer des Hauses am Hinteren Tor 1 sehr wohl etwas gewusst hatte. Etwas hatte sogar.«
    »Was meinst du, er hatte etwas?«
    Aude überreichte das Päckchen feierlich ihrem Sohn. Er hielt es wie einen heißen Stein, und Şirîn blinzelte ihm Zuversicht zu. Dann packte er es vorsichtig aus. Was er nun in seinen Händen hielt, war ein Wachstuchheft. Er blätterte darin. Die Seiten waren dünn und teilweise vergilbt, die Knoten der Bindung wirkten angebröselt und fädig wie Spinnendraht. Aber sie hielten.
    Auf der ersten linken Innenseite stand in ordentlich geschwungener altertümlich ziselierter Schrift: Ferenc Dušan Schön, Weihnachtsgeschenk von meiner Mutter Alžbeta Csöke, 1877.
    Die Texte auf den ersten paar Seiten konnte er nicht lesen, sie waren in einer alten Schreibschrift abgefasst, die er nicht kannte. Von weit her hörte er seine Mutter so etwas sagen wie, macht nichts, wir finden jemanden, der’s lesen kann, aber er blätterte schon weiter. Ungefähr ab der Mitte des Heftes änderte sich die Schrift, und später noch einmal und dann noch einmal. Es schien, dass verschiedene Menschen dieses Heft benutzt hatten für ihre Gedanken, kleine Poeme, Lebensweisheiten und tagebuchartigen Aufzeichnungen.
    »Ferenc Dušan Schön war dein Urururgroßvater. Bislang kannten wir ja lediglich seinen Namen. Nun wissen wir endlich mehr. Er war der Sohn einer Alžbeta Csöke und eines František Schön, Posticheur aus Kassa, heute Košice, einer Stadt im Osten der Slowakei.«
    »Was, Slowaken sind wir also auch?«
    »Hör zu. Dieser Ferenc Dušan Schön hatte doch drei Frauen. Er und sie alle haben dieses Heft für ihre Aufzeichnungen benutzt. Es ist von unschätzbarem Wert. Und es soll dir gehören, Aurin, es ist deines ganz allein.«
    Aurelio las die eine oder andere Stelle laut vor:
    Ehrlich denke
    Redlich thu
    Bringt es Glück
    So brachtest schufst es Du.
     
    Der Mutter Brief.
    Ich halt ihn tiefbewegt, der Mutter Brief.
    Und Küsse heiß die müde Zitterhand.
    Sehnsucht und Not! – Das Meer, es ist so tief
    Obs dich noch einmal trägt ins Heimatland
    Verstummt so mancher Mund, der einst dich rief
    Bin schon so alt – ich sitze traumgebannt
    Und fühle tief der Liebe, die nie schlief
    Brennendes Werk, das trotzig ich verkannt.
     
    Ein Wörtchen …
    Ein Wörtchen kann oft lindern
    Den Schmerz, der dich bewegt
    Das ist schon Leid vermindern
    Wenn mans gemeinsam trägt.
    Das ist schon sanftes Trösten
    Wenn man bloß danach fragt
    Warum das Herz im Stillen
    Sich härmt und sorgt und klagt
    Das ist schon für die Wunden
    Ein Balsam, der sie kühlt
    Wenn wir ein Herz gefunden
    Das selber mit uns fühlt.
    »Was waren das für Zeiten …«, wisperte Aurelio, dann griff er Şirîns Hand und drückte sie, einmal, zweimal. Fest.
    Aude erzählte, dass sie das Heft letzte Nacht mehrfach durchgelesen hätte. Und mit jedem Mal, seien ihr neue Zusammenhänge aufgegangen, mit denen sie den Stammbaumhabe präzisieren können. Zudem hätten sie einige Stellen so stark angerührt, dass sie schließlich sogar Tom aus seinem Schlaf geweckt habe, damit sie sie ihm vorlesen konnte. Aurelio stellte sich einen schlaftrunkenen Tom vor, der, geduldiger Gefährte, voller Großmut gegen die eigene Müdigkeit anging, um seiner etwas verschrobenen Freundin Aude zu lauschen, wie sie über hundertjähriges Gedankengut rezitierte. Er musste über dieses Bild lächeln. Es war ein glückliches Lächeln, und auch ein bisschen ein erlöstes.
    Besonders schön seien die Stellen über Weihnachten und Neujahr, und Aude proklamierte eines der Kurzgedichtchen, das von zwölf berühmten Kassaer Glockenschlägen und der unerschütterlichen Kraft der Gegenwart berichtete.
    »Und zu Weihnachten hatten sie etwas, das nannten sie Salonzucker. Der Christbaum stand bei den vornehmen Leuten nämlich im Salon, und in den Familien wurde Zucker gekocht, dann abgekühlt und in Seidenpapier gewickelt und mit Hilfe einer kurzen Schnur an den Baum gehängt. Es scheint, unsere Familie nannte diesen Salonzucker umgangssprachlich Zöttel. Zöttel, das klingt ja fast wie Schweizerdeutsch!«
    »Was ist das?«, fragte Aurelio und hielt Aude einen Umschlag hin.
    »Das ist ein Brief, den Alžbeta Csöke ihrem Sohn Ferenc Dušan Schön geschrieben hat. Er muss ihn in dem Wachstuchheft aufbewahrt haben über all die Jahre. Er liest sich sehr schön, Aurelio.«
    Bevor seine Mutter ihm den Brief wegschnappen konnte und zu einer neuen Rezitationsrunde lud, wollte Aurelio
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