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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen
Autoren: Minelli Michele
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danach sein sollen, aber sie ließ sich treiben, und in der Gegend von Białowieża traf sie unvermittelt auf eine Handvoll Englisch sprechender Forscher, verwegene junge Männer im Alter zwischen vierundzwanzig und dreißig, die nach Rauchfleisch und Abenteuer rochen und die dem Wolf auf der Spur waren. Aude schloss sich ihnen an. Vier Tage zogen sie gemeinsam durch die Wälder, angeführt von einem milchgesichtigen Polen, der stolz behauptete, jeden Baum, auch jedes Stück moosüberwachsenes Totholz, mit Namen zu kennen.
    Aude, mit ihren kurzen steilen Beinen, dem aschbraunen Haar und ihrem Hang, nichts Überflüssiges zu sagen, störte nicht weiter in der Runde. Im Gegenteil, es schien, die Männer sahen in ihr einen Kumpel, zwei anpackende Hände mehr, die abends beim Festzurren der Zelte helfen konnten, eine weitere Schulter, um anerkennend draufzuklopfen. Wenigstens empfand das Aude so.
    Als am fünften Tag einer der jungen Männer, ein schwarzhaariger mit flachen Augenbrauen, ausrasiertem Nacken, langem Stirnhaar und einem frisch gewaschenen Gesicht, auf sie zukam und sie ansprach, hatte sie bereits vergessen, dass sie eine Frau allein unter Männern war. Er sagte: »Hey. Du willst doch Vögel schauen. Dann hör gut zu. Für mich hat sich da unerwartet eine Möglichkeit aufgetan. Ich kann mit einem Schwager des Jungen weiter in den Norden fahren, nach Lettland hinein. Ich sag dir das, weil ich fänd’s nicht gut, wenn du mit den anderen hier bleibst. Die sind, ich weiß nicht, irgendwie wild. Siehst ja, wie sie schon wieder an der Bierflasche nuckeln. Auf jeden Fall, oben in Lettland gibt’s Wolfspopulationen, das hat die Welt noch nicht gesehen. Und Vögel hat’s da auch. Lettland ist durchzogen von weitläufigen Wäldern und flachen Seen, das reinste Naturparadies. Also, was meinst du, kommst du mit?«
    Aude, die auf den Klang seiner Stimme gehorcht hatte, fand, da war nichts Falsches. Sie sagte ja.
    Morgen würden sie jenen Schwager kennenlernen, der die beiden mit gefälschten Visa über die Grenze quer durch Litauen und bis in die Wälder Lettlands fahren würde. Gegen harte Devisen.
    Der Grenzübertritt war eine Sache für sich. Vier Flaschen Wodka und mehrere Bündel Geld, die den Besitzer wechselten, und das Ganze zweimal. Dann waren sie drin, im sowjetisch regierten Lettland, und bretterten in einem Lada durch ewig lange Wälder der Ostseeküste zu.
    In Ventspils, Windau, Windawa, wollten sie sich vom Fahrer verabschieden. Der würde sie an einen anderen Burschen übergeben, bei dem sie wohnen könnten, solange sie noch nicht unterwegs in die Wälder waren. Die meiste Zeit der Fahrt über dösten sie vor sich hin. Die Anspannung wegen des verbotenen Tuns hatte eine Art Lähmung über sie gelegt.
    Ventspils war eine Militärstadt. Hier sicherte sich dieSowjetunion ihren größten Hafen für den Export von Rohöl, einen Hafen, der auch im Winter eisfrei blieb. Keine Frage, musste der bewacht werden; nach dreiundzwanzig Uhr wagte sich niemand mehr freiwillig auf die Straße. Die Quartiere rund um den Hafen waren rigoros abgeriegelt, überhaupt schien das Leben hier unter der Hand zu laufen und nie für alle Öffentlichkeit einsehbar. Die Einzigen, die freies Geleit hatten, waren die zahlreichen kreischenden, klagenden, jammernden und schreienden Möwen im Flug.
    Etwas zurückgesetzt von der Juri-Gagarin-Straße, zogen sie zu Zeltīte Bērziņa und Jānis Asaris in ein Holzhaus, genauer: in einen sonnengebeizten Dachstock mit Hitzestau. Jānis war Waldarbeiter und würde die beiden mitnehmen, wenn er demnächst für drei oder vier Wochen in den Hölzern verschwinden würde.
    Alles war gut abgesprochen und lief wie am Schnürchen. Zeltīte brachte jeden Tag Einmachgurken, Kartoffeln und gebratenen Fisch nach oben, und Jānis steckte Abend für Abend seinen Kopf herein, um Hallo zu sagen. Die beiden hatten alles, was sie für ein kurzfristiges Überleben brauchten: zu trinken und zu essen, eine breite Matratze auf dem Boden und drei Dachluken, durch die sie den Wind nach Belieben einfahren lassen konnten. »Bist eine richtige Windsbraut«, sagte Aidan einmal, weil Aude stundenlang am Fenster hockte, durch einen schmalen Vorhang verdeckt, und den Vögeln bei ihrem Flug zusah. Durch die Holzdielen drang das lettische Lautgemisch zu ihnen hoch, und Aude fühlte sich wohl so fern von ihrem Daheim.
    Das Warten zog sich hin. Und als den beiden die Geschichten ausgingen, die sie einander erzählen konnten –
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