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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen
Autoren: Minelli Michele
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jonglieren kann und dabei keine einzige Empfindung zu Boden fallen lässt. Sie raffte sich kaum merklich auf, löste sich aus Toms Arm und beugte sich vor. Dann sagte sie etwas, worauf er lange, sein ganzes Leben lang, gewartet hatte. Er hörte die Stimme seiner Mutter, er sah, wie sich ihre Lippen bewegten und bat seine Ohren inständig, die Signale weiterzuleiten, an sein Hirn, auf dass er verstand, verstehen konnte, was sie ihm da endlich offenbarte.
    »Dein Vater heißt Aidan Finnegan Scott. Ich habe ihn 1986 in Lettland kennengelernt. Ich war gerade mal achtzehn Jahre alt. Ich war ein Kind.«
    Aude schluckte und atmete tief ein. Ein Engel ging durch den Raum, und in Aurelios Stimme lag ein Zittern, als er mutig durch die Türe, die er aufgestoßen hatte, schritt und fragte: »Weiß er von mir?«
    Aude schüttelte den Kopf. Dann atmete sie laut und geräuschvoll aus. »Ich hatte es kurze Zeit erwogen, damals. Ihn zu informieren. Meinem Leben eine andere Richtung zu geben. Ich habe es nicht getan.«
    Verzweiflung bemächtigte sich Aurelios Gesichtszügen. »Aber dann …, dann …«
    »Doch. Ich weiß, wo er ist.« Aude schaute ihm dabei fest in beide Augen. Ihr Blick flackerte nicht, er hielt dem seinen stand.
    Jetzt war er also da, dieser Moment, von dem er so langeund immer wieder geträumt hatte. Die Worte wurden gesprochen, die er nie geahnt hatte, und die Zeit tat beides, sie blieb auf geheimnisvolle Weise stehen und raste zugleich wie ein Schnellzug, dass es ihm nur so in den Ohren sauste. Er sah sich als kleiner Junge, sah sich als Jüngling, als junger Mann, als Erzieher in einer Krippe, umgeben von einer Schar von Kindern, und sah sich wie in einem Film noch einmal in der Minute, in der ihm Şirîn in Ruhe und Klarheit gesagt hatte, sie sei schwanger von ihn. »Wir erwarten ein Kind. Du wirst Vater, Aurelio.«
    Und plötzlich passierte alles ganz schnell. Es war seine Mutter, die sprach, die zu ihm sprach und ihn inständig mit den Augen um Vergebung bat.
    »Ich habe ihn gegoogelt. Und ich habe ihn für dich gefunden. Für dieses Ziel hätte ich sogar eigens ein Facebook-Account eingerichtet, Myspace, Xing, wäre es denn nötig gewesen. Ich fand ihn auch so.«
    Aude kramte etwas umständlich ein Papier aus einem Umschlag hervor, das ziemlich zerknittert in ihrer Hosentasche auf diesen Auftritt gewartet hatte. Sie glättete das Blatt mit der Handkante, ein scheuer Versuch, Zeit zu gewinnen für Worte, die sie gerne gesagt hätte. Dann reichte sie das Papier tonlos mit offenem Mund über den Tisch, und alles, was ihr auszusprechen gelang, war: Aurin.
    Wieder der Engel, der durch das Zimmer schritt, derweil Aurelios Augen sich in das Papier verkrampften.
    »Ein Museumskurator in Dublin? Irland? Ein Ire, ausgerechnet?«
    »Eigentlich ein Schotte, wenn man seinen Namen nimmt. Aber ich weiß es nicht. Wir heißen schließlich auch Senigaglia, aber wann die Senigaglias aus dem keltischen Sena Gallica weiter nordwärts nach Bergamo gewandert waren, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich habe ihn nicht angerufen, Aurin. Ich dachte, vielleicht willst du das lieber tun.«
    Aurelio hob die Augenbrauen. Die Bernsteinseen glitzerten. Şirîn war diskret näher an ihn herangerutscht, ihre Beine berührten nun die seinen, ihre Arme lagen parallel neben seinen auf dem Couchtisch, sie atmete im Gleichklang ein und aus. Aude beobachtete abwartend. Tom schwieg. Seine Ruhe sandte Sicherheit in den Raum. Unumstößliches Vertrauen in jeden Einzelnen der Anwesenden. Und auch in den einen, der abwesend war.
    »Wenn du magst, erzähle ich dir das wenige, was ich von ihm weiß, Aurin.«
    Er horchte auf die Qualität ihrer Stimme, den Klang jeder Silbe, und schaute seine Mutter erst dann wieder an, als er sich sicher sein konnte, dass sie seine fließenden Tränen richtig zu deuten wüsste.

Windsbraut
    Ventspils, 1986
    Das Abitur war vollbracht und nichts mehr, das sie hielt. Aude schlug den Atlas auf und bestimmte ihr Ziel. Zwei Tage später war sie unterwegs. Als Rucksacktouristin mit ihrem eigenen Ersparten und dem Geld, das ihre Eltern ihr zur Belohnung gegeben hatten, in Devisen umgewandelt. Sie wollte gen Osten, die Ostsee sehen, unbekannte Erde unter den Füßen spüren und vor allem dies: neue Klänge in ihren Ohren. Ihre erste Station war Deutschland, dann, nachdem sie die überaus umständlichen Visaformalitäten hinter sich gebracht hatte, Ostberlin und Polen. Die Bergseen der Hohen Tatra mit ihrer Vogelwelt hätten es
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