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Die Rückkehr des Tanzlehrers

Die Rückkehr des Tanzlehrers

Titel: Die Rückkehr des Tanzlehrers
Autoren: Henning Mankell
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den Spiegel in der Kleiderschranktür. Vorsichtig kroch er zur Zimmertür und blickte ins Wohnzimmer. Da begriff er, was passiert war. Jemand hatte durch das nach Süden gehende große Fenster geschossen oder eine Granate hineingeworfen. Das ganze Zimmer war mit Glassplittern übersät.
    Mehr Zeit, darüber nachzudenken, hatte er nicht, bevor das Fenster auf der Nordseite zerschossen wurde. Er preßte sich auf den Fußboden. Sie kommen von allen Seiten, dachte er. Das Haus ist umstellt, und sie schießen die Fenster kaputt, um hereinzukommen. Er suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Die Dämmerung, dachte er. Die kann mich retten. Wenn nur die verdammte Nacht endlich zu Ende wäre.
    Dann zerschossen sie das Küchenfenster. Er lag auf dem Bauch auf dem Fußboden und hielt die Hände über den Kopf. Als es das nächste Mal knallte, wußte er, daß das Badezimmerfenster getroffen worden war. Er spürte, wie die kühle Luft durch die zerschossenen Fenster hereinströmte.
    Es zischte. Neben ihm plumpste etwas auf den Boden. Als er den Kopf hob, sah er, daß es eine Tränengaspatrone war. Er wandte sich ab, aber es war zu spät. Der Rauch hatte bereits seine Augen und seine Lungen erreicht. Ohne etwas sehen zu können, hörte er, wie neue Tränengaspatronen durch die kaputten Fenster hereingeworfen wurden. Der Schmerz in den Augen war jetzt so stark, daß er es nicht mehr aushielt. Immer noch hatte er das Gewehr in den Händen. Es gab keine andere
    Möglichkeit. Er mußte das Haus verlassen. Vielleicht war es trotz allem die Dunkelheit und nicht die Dämmerung, die ihn retten konnte. Er tastete sich zur Haustür vor. Der Husten riß in den Lungen. Er stieß die Tür auf und stürzte hinaus. Gleichzeitig schoß er. Er wußte, daß es ungefähr dreißig Meter bis zum Waldrand waren. Obwohl er nichts sehen konnte, lief er, so schnell er konnte. Die ganze Zeit wartete er darauf, daß der Todesschuß ihn treffen würde. Während des kurzen Laufs bis zum Waldrand gelang es ihm noch, zu denken, daß er getötet werden würde, ohne zu wissen, von wem. Er wußte, warum, aber nicht, von wem. Der Gedanke bereitete ihm ebenso große Schmerzen wie seine brennenden Augen.
    Er prallte gegen einen Baumstamm und wäre fast gestürzt. Noch immer blind vom Tränengas, tastete er sich zwischen den Bäumen weiter. Zweige ritzten seine Gesichtshaut auf, aber er wußte, daß er nicht stehenbleiben durfte. Wer es auch war, dort hinter ihm, er würde ihn finden, wenn er nicht tiefer in den Wald hinein gelangte. Er stolperte über eine Unebenheit auf dem Boden und fiel. Als er sich aufrichten wollte, spürte er etwas im Nacken. Er wußte sofort, was es war. Jemand hatte den Fuß auf seinen Hinterkopf gestellt. Er erkannte, daß es vorbei war. Die Schatten hatten ihn besiegt. Sie hatten ihre dunklen Kleider ausgezogen und gezeigt, wer sie eigentlich waren.
    Dennoch wollte er sehen, wer es war, der ihn töten würde. Er versuchte den Kopf zu drehen, aber der Fuß in seinem Nacken hinderte ihn daran.
    Dann zog ihn jemand auf die Füße. Immer noch konnte er nichts sehen. Dennoch wurden ihm die Augen verbunden. Einen kurzen Moment lang spürte er den Atem der Person, die ihm die Binde am Hinterkopf verknotete. Er versuchte etwas zu sagen, aber als er den Mund öffnete, kamen keine Worte, nur ein weiterer Hustenanfall.
    Danach schlossen sich zwei Hände hart um seine Kehle. Er versuchte, dagegen anzukämpfen. Doch es fehlte ihm die Kraft. Er spürte, wie das Leben aus ihm entwich.
    Es sollte fast zwei Stunden dauern, bis er endlich tot war. Wie in einem Grenzland des Grauens, zwischen dem ungeheuren Schmerz und dem hoffnungslosen Willen zu überleben, wurde er in der Zeit zurückversetzt zu jenem Tag, an dem er dem Schicksal begegnet war, das ihn jetzt einholte. Er wurde umgestoßen und fiel auf den Boden. Jemand zog ihm Hose und Pullover aus. Er spürte die kalte Erde an seiner Haut. Dann trafen ihn die Peitschenhiebe und verwandelten alles in ein Inferno.
    Wie viele Schläge er erhielt, wußte er nicht. Zwischendurch verlor er das Bewußtsein. Aber er wurde immer wieder mit kaltem Wasser übergossen und an die Oberfläche zurückgerissen. Anschließend fielen die Schläge weiter. Er hörte sich schreien, aber es gab niemanden, der ihm helfen konnte. Shaka lag tot in seinem Zwinger.
    Das Letzte, was er mitbekam, war, wie er über den Hofplatz ins Haus geschleift und unter den Fußsohlen geschlagen wurde. Dann wurde alles um ihn her dunkel. Er lebte
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