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Die Rückkehr des Tanzlehrers

Die Rückkehr des Tanzlehrers

Titel: Die Rückkehr des Tanzlehrers
Autoren: Henning Mankell
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hinter der Theke in der Cafeteria saßen gelangweilt da und lasen Illustrierte oder Reisebroschüren.
    »Der Regen hat aufgehört«, sagte sie. »Es ist Zeit für meinen zweiten Spaziergang zwischen den Toten. Ich möchte gern, daß Sie mich begleiten.«
    Der Wind hatte von Nord auf Ost gedreht. Sie wählte diesmal einen anderen Weg, als wolle sie das gesamte Schlachtfeld mit ihrem Spaziergang abdecken. »Bei Ausbruch des Krieges war ich zwanzig Jahre alt«, sagte sie. »Ich wohnte damals in London. Ich erinnere mich noch an den schrecklichen Herbst 1940, wenn Fliegeralarm war und man wußte, daß in dieser Nacht wieder Menschen sterben würden, aber man wußte nicht, ob man selbst darunter sein würde. Ich erinnere mich, daß ich dachte, das Böse sei losgelassen. Es waren keine Flugzeuge da oben im Dunkeln, es waren Teufel mit Schwänzen und Krallen an den Füßen, die mit den Bomben kamen und sie auf uns fallen ließen. Dann, weit später, als ich schon Polizistin war, sah ich ein, daß es eigentlich keine bösen Menschen gibt, Menschen, deren Seele böse ist, wenn Sie wissen, was ich meine. Sondern daß die Umstände dieses Böse hervorrufen.«
    »Ich frage mich, was Herbert Molin von sich selbst dachte.«
    »Ob er fand, daß er ein böser Mensch war?«
    »Ja.«
    Sie überlegte, bevor sie antwortete. Sie waren hinter einem hohen Steindenkmal am Rande des Schlachtfelds stehengeblieben, weil sie ihren Schuh zubinden mußte. Er wollte ihr helfen, aber sie schüttelte den Kopf. »Herbert betrachtete sich als ein Opfer«, sagte sie. »Auf jeden Fall zu dem Zeitpunkt, als er bei mir seine Beichte ablegte. Aber jetzt ist mir klar, daß er nicht ehrlich war. Damals war ich nicht in der Lage, ihn zu durchschauen. Ich hatte nur Angst, er könnte so liebeskrank werden, daß er sich vor mein Fenster stellte und heulte.«
    »Aber das hat er nicht getan?«
    »Gott sei Dank nicht.«
    »Was sagte er, als Sie sich trennten?«
    »>Auf Wiedersehens Sonst nichts. Vielleicht versuchte er, mich zu küssen. Ich weiß es nicht mehr. Ich war nur froh, daß er tatsächlich verschwand.«
    »Und danach haben Sie nie wieder von ihm gehört?«
    »Nie. Bis heute. Wo Sie kommen und diese sonderbare Geschichte erzählen.«
    Sie waren zum zweitenmal ans Ende des Schlachtfeldes gelangt und machten kehrt.
    »Ich habe nie geglaubt, daß der Nationalsozialismus mit Hitler starb«, sagte sie. »Menschen mit bösen und menschenverachtenden, rassistischen Ansichten gibt es heute in gleichem Maße. Aber sie haben andere Namen, andere Methoden. Heutzutage werden keine Kriege mehr von Heeren auf Schlachtfeldern ausgetragen. Der Haß auf die, die man verachtet, kommt heute anders zum Ausdruck. Von unten, kann man sagen. Dieses Land, oder Europa, ist im Begriff, von innen heraus zerrissen zu werden durch seine Verachtung von Schwäche, die Überfälle auf Flüchtlinge, den Rassismus. Ich sehe es überall. Und ich frage mich, ob wir wirklich fähig sind, entschieden genug Widerstand zu leisten.«
    Stefan öffnete das Tor. Aber sie kam nicht mit hinaus. »Ich bleibe noch eine Weile. Ich bin noch nicht richtig fertig mit den Toten. Ihre Geschichte war sehr sonderbar. Aber eine Frage, die ich mir stelle, ist noch nicht beantwortet.«
    »Welche?«
    »Warum sind Sie eigentlich hergekommen?«
    »Neugier. Ich wollte wissen, wer sich hinter dem Buchstaben >M< im Tagebuch verbarg. Ich wollte wissen, warum er die Reise nach Schottland gemacht hat.«
    »Sonst nichts?«
    »Nein. Nur das.«
    Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und lächelte. »Viel Glück«, sagte sie.
    »Wobei?«
    »Vielleicht finden Sie ihn einmal. Aaron Silberstein, den Mann, der Herbert getötet hat.«
    »Er hat Ihnen also erzählt, was in Berlin geschehen war?«
    »Er erzählte von seiner Angst. Sein Tanzlehrer hieß Lucas Silberstein und hatte einen Sohn namens Aaron. Herbert fürchtete die Rache und glaubte immer, daß sie gerade von ihm kommen würde. Er erinnerte sich an diesen Jungen, den kleinen Aaron. Ich glaube, Herbert träumte nachts von ihm. Ich habe das bestimmte Gefühl, daß er es war, dem es schließlich gelang, Herbert aufzuspüren und ihn zu töten.«
    »Aaron Silberstein?«
    »Ich habe ein gutes Gedächtnis. Das war der Name, den er genannt hat. Und jetzt nehmen wir Abschied voneinander. Ich gehe zurück zu meinen Toten. Und Sie gehen zurück zu den Lebenden.«
    Sie trat einen Schritt vor und streichelte ihm die Wange. Dann kehrte sie mit energischen Schritten aufs
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