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Die Rückkehr der Jungfrau Maria

Die Rückkehr der Jungfrau Maria

Titel: Die Rückkehr der Jungfrau Maria
Autoren: Bjarni Bjarnason
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würde, wenn er seiner Angst freien Lauf ließ. Er bat Gott um Kraft und sagte zu seiner eigenen Verwunderung mit vollkommen normaler Stimme: »Du brauchst keine Angst zu haben, mein Schatz, du hast einfach nur kein Spiegelbild.«
    Er flößte ihr so viel Vertrauen ein, dass die Gefahr des Verrücktwerdens gebannt war. Sie schmiegte sich fest an ihn und fragte aufgewühlt:
    »Warum, Papa, warum?«
    Bisher hatte er ihre unzähligen Fragen immer beantwortet und ahnte nun, dass alles umsonst gewesen wäre, wenn er diese eine Frage unbeantwortet ließe. Dann würde sie hinaus in die Welt gehen, auf der hoffnungslosen Suche nach einer Antwort. Widerwärtige Männer würden darauf bestehen, sie zu untersuchen, die Leute würden sich vor ihr fürchten und nach ihrem Leben trachten. Falls die Gerichte sie verschonten, würde der Mob das Gesetz in seine blutbeschmierten Hände nehmen und, und … was konnte er ihr sagen? Es würde nicht reichen, etwas zu erfinden, durch eine Lüge würde er sie von sich stoßen, durch Schweigen würde er sie in der Kälte aussperren. Er musste ihr die Wahrheit sagen. Aber was war die Wahrheit? Das war ihm völlig schleierhaft. Wieder bat er Gott, an den er bisher nicht geglaubt hatte, um Beistand.
    »Lieber Gott, Schöpfer des Himmels und der Erde, ich werde bereitwillig ins ewige Fegefeuer gehen, wenn du mir eine Antwort gibst, die meine Tochter rettet.«
    »Warum, Papa, warum?«, hörte er die schöne Stimme seiner Tochter wiederholen, und er spürte, dass er etwas sagen musste – jetzt oder nie. Er begann:
    »Weißt du noch, was ich dir eben gesagt habe, Maria?«
    »Was?«
    »Ich habe gesagt, dass du die schönste Frau auf der ganzen Welt bist.«
    »Ja, aber warum habe ich kein Spiegelbild?«
    »Weil das, was ich gesagt habe, wahr ist. Du bist es nicht nur in meinen Augen, weil du meine Tochter bist und ich dich liebe. Du bist die schönste Frau auf der ganzen Welt.«
    »Aber warum habe ich kein Spiegelbild?«
    »Weil Spiegelbilder immer ein umgekehrtes Bild dessen sind, was nicht eben und gleichmäßig ist. Aber die vollkommene Form kann kein umgekehrtes Bild haben. Deine Formen sind vollkommen, und wenn du dein Bild im Spiegel sehen würdest, dann wäre es kein Spiegelbild, sondern eine Nachahmung. Und die vollkommene Form, die in jeglicher Hinsicht eben und gleichmäßig ist, kann kein Spiegelbild haben. Sie ist einzigartig.«
    »Bin ich zu schön, um ein Spiegelbild zu haben?«
    »Ja.«
    »Aber was passiert dann mit mir?«
    »Nichts.«
    »Und wenn die Leute dahinterkommen?«
    »Niemand kommt dahinter. Das bleibt unser Geheimnis. Versprich mir, es geheim zu halten, solange du lebst, auch wenn ich bald sterbe.«
    »Du stirbst nicht.«
    Er senkte den Kopf, während er tief einatmete, und schaute sie dann mit blassem Gesicht an.
    »Versprich mir, es geheim zu halten, solange du lebst.«
    Sie sah ihn voller Zuneigung an und sagte beruhigend:
    »Ich verspreche es, lieber Papa.«
    Dann drückte sie ihn an ihre Brust und spürte zu ihrer Verwunderung, dass er dort lange schlafen würde.

 
    III
    Maria war in ihrem Studium außerordentlich erfolgreich und legte mit einundzwanzig letzte Hand an ihre Doktorarbeit, die schlicht Liebe hieß. Sie las gerade die Schlussfolgerung »Gott ist Liebe, und frei zu sein bedeutet, ihm verpflichtet zu sein«, als sie plötzlich einen merkwürdigen Schwindel verspürte. Einen Moment lang glaubte sie, ohnmächtig zu werden, alles verschwamm in einem weißen Dunst, und sie konnte die Buchstaben auf den Seiten vor sich nicht mehr erkennen.
    Ich darf nicht ohnmächtig werden.
    Da sich vor ihren Augen alles drehte, schloss sie diese und versuchte tief durchzuatmen. Nach einer Weile traute sie sich, aufzustehen, musste sich aber an den Wänden und Möbeln abstützen. So konnte sie sich ins Bad tasten, das kalte Wasser in der Dusche aufdrehen und es sich über den Kopf laufen lassen.
    »Oh Gott, oh Gott«, stöhnte sie gequält. Bald fühlte sie sich etwas besser, drehte den Wasserhahn wieder zu und griff nach einem Handtuch. Aus alter Gewohnheit schaute sie auf dem Weg aus dem Bad nicht in den Spiegel. Sie rubbelte sich kräftig die Haare, um den Kreislauf anzuregen, machte Tee, ging damit ins Arbeitszimmer und setzte sich an den Schreibtisch.
    Tja, was auch immer das war, jetzt geht es mir besser.
    Sie nahm die Doktorarbeit, die über zweihundert Seiten umfasste, und blätterte darin. Sie blätterte immer schneller. Die Seiten schienen immer noch leer zu sein,
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