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Die Rückkehr der Jungfrau Maria

Die Rückkehr der Jungfrau Maria

Titel: Die Rückkehr der Jungfrau Maria
Autoren: Bjarni Bjarnason
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Qualen, wie ich sie mir schlimmer nicht vorstellen konnte, dann wusste ich, dass er die Antwort auf meine Frage kannte, und das war irgendwie genug. Ich musste nicht mehr fragen. Ich hörte ihm zu und lernte, wie ein Orakel mit ihm zu reden, wobei ich mir nie sicher war, ob es die größte Weisheit oder pures Geschwafel war. Oft wusste ich nicht, woher meine Worte kamen, spürte nur, dass Großvater und ich zusammen waren.
    Um ihn aufzuheitern, bemühte ich mich, meine Lehrmeister zufriedenzustellen, und obwohl ich nie eine Prüfung ablegen musste, wusste ich, dass sie eine gute Meinung von mir hatten. Mein Lieblingslehrer war Samuel Wallenda, der mir Reiten und Turnen beibrachte. Samuel hatte im Zirkus gearbeitet und eine Zeitlang sein eigenes Varieté-Theater betrieben. Er erzählte mir viele spannende Geschichten aus dem Zirkus, und wir wurden gute Freunde. Ich brachte ihn dazu, mir alle möglichen Zirkusnummern beizubringen: Akrobatik, Seiltanz, Messerwerfen und Zauberkunststücke. Diese Unterrichtsstunden waren unser Geheimnis, doch nach einem halben Jahr bekam Großvater Wind davon. Wütend warf er Samuel hinaus, genau wie ich befürchtet hatte. Doch als er mich zu sich zitierte, war ich vorbereitet. Zunächst hielt er eine Rede darüber, dass der Zirkus lediglich zeige, dass hinter allem Geheimnisvollen nur normale Technik und Mechanik stecke, und er daher schlicht unnütz sei. Ich entgegnete routiniert:
    »Aber ist das nicht genau das, was du mir beibringst?«
    Großvater zögerte einen Moment, räusperte sich dann und sagte:
    »Ja, in der Tat. Aber ich möchte nicht, dass du Tricks und Techniken lernst, um den Leuten vorzugaukeln, die Welt sei anders, als sie ist. Deshalb habe ich Samuel hinausgeworfen.«
    Fast automatisch antwortete ich: »Ja, Großvater«, aber dann fiel mir wieder ein, was ich eigentlich hatte sagen wollen. Ich brauchte einen Augenblick, um Mut zu fassen. Um Wut und Entschlossenheit aufzubauen, dachte ich an die schönen Stunden, die Samuel und ich miteinander verbracht hatten, und sah Großvater dabei nicht an. Dann sagte ich:
    »Großvater, ich weiß, dass du mich über alles liebst und nur das Beste für mich willst. Deshalb bitte ich dich nie um etwas. Und ich bitte dich auch jetzt nicht. Aber ich habe entschieden, dass Samuel mich weiter unterrichten wird.«
    Verlegen schaute ich Großvater an, denn ich war es nicht gewohnt, so mit ihm zu sprechen. Verwundert begegnete er meinem Blick, musterte mich und sagte dann mit Nachdruck: »Du weißt, dass in den ersten Zirkussen, wie dem Zirkus Maximus in Rom, die wichtigsten Darbietungen Menschenmorde waren.«
    »Ja«, antwortete ich, ohne richtig zu wissen, worüber wir eigentlich sprachen. Großvater schaute mir fest in die Augen, und ich musste mich bemühen, seinem Blick standzuhalten. Dann sagte er leise:
    »Nun denn«, schaute aus dem Fenster und fügte hinzu: »Dann haben wir momentan nichts weiter zu besprechen, hinaus mit dir.«
    Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen und hätte fast wie sonst »Danke, Großvater« gesagt, spürte aber, dass das unangebracht gewesen wäre. Triumphierend eilte ich zu Samuel und sagte ihm, er müsse seine Sachen nicht packen. Von da an mischte sich Großvater nicht mehr in meine Zirkusleidenschaft ein, und ich konnte fast meine gesamte freie Zeit mit Übungen in der alten Scheune verbringen, die Samuel und ich als unser eigenes Varieté-Theater einrichteten. Als ich siebzehn war, starb Großvater, und um in Blomsterfeld nicht meinen Erinnerungen zum Opfer zu fallen, ging ich fort, arbeitete in einem Zirkus, den Samuel gekauft hatte, und kehrte erst nach sieben Jahren zurück.
    Eines frühen Morgens parkte ich meinen Wagen auf dem Kiesweg im Wald oberhalb des Hauses, damit Margret mich nicht bemerkte. Der alte Pfad war fast ganz mit Gras zugewachsen. Meine Schritte weckten die Rotdrosseln, die den Morgentau abschüttelten und schläfrig ein Präludium zum Konzert des Tages zwitscherten. Ich ging durch die Hintertür in den Keller. Der Geruch war mir ungemein vertraut. Obwohl es düster war, machte ich das Licht nicht an, weil Margret es dann von ihrem Haus aus sehen und sofort herüberkommen würde. Ich ging ins Erdgeschoss, öffnete eine Zimmertür nach der anderen und sah, dass sich nichts verändert hatte – alles war noch genau wie in meiner Erinnerung. Das einzig Überraschende war, wie sauber alles war. Margret musste öfter als einmal im Monat herübergekommen sein, wie ich sie vor meiner
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