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Die Rückkehr der Jungfrau Maria

Die Rückkehr der Jungfrau Maria

Titel: Die Rückkehr der Jungfrau Maria
Autoren: Bjarni Bjarnason
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zitierte und sagte, ich hätte genug gelesen. Er meinte, ich würde mich für einen Jungen meines Alters viel zu wenig bewegen, und da er mich nicht in die Schule schicken wolle, habe er einige Privatlehrer eingestellt, die mich von nun an unterrichten würden und denen ich gehorchen solle. Einer unterrichtete mich in Tanz und Musik, ein anderer in Mathematik und Logik, ein Dritter in Maschinenbau und Werken, und Samuel Wallenda brachte mir Reiten und Turnen bei. Großvater und ich, die wir uns die meiste Zeit drinnen aufgehalten hatten und allenfalls ab und zu durch den Blumengarten der Haushälterin spaziert waren, unternahmen nun lange Wanderungen durch den Wald und die Berge rund um Blomsterfeld und zelteten oder schliefen unter freiem Himmel. Früher hatte Großvater mir immer Geschichten erzählt, aber jetzt erklärte er mir die Natur der Dinge mit der Logik wissenschaftlichen Denkens. Früher flogen die Vögel, weil Gott ihnen am vierten Tag der Schöpfung befohlen hatte, am Himmelsfirmament zu fliegen, und weil es, sieben Tage nachdem er die Erde in einer Flut versenkt und der Mensch die Welt verloren hatte, eine Taube geben musste, die den Olivenzweig finden, damit zu Noah fliegen und dem Menschen die Welt zurückgeben konnte. Doch auf einmal flogen die Vögel nur, weil es ihnen durch den Einsatz ihrer Flügel möglich war, unter den Flügeln mehr Luftdruck zu erzeugen als darüber. Vielleicht war das nur eine natürliche Fortsetzung meiner Ausbildung, aber sie war unbestreitbar wesentlich langweiliger als zuvor.
    Manchmal, wenn Großvaters logische Erklärungen und begriffliche Definitionen mir schon graue Haare wachsen ließen, erzählte ich ihm die Geschichten, die er mir als Kind beigebracht hatte, und ergänzte sie nach eigenem Gutdünken. Dann wurde er schweigsam, hob die Augenbrauen und versuchte verärgert auszusehen. Doch manchmal, wenn ich mir eine Geschichte ausgedacht oder alte Fabeln auf neue Weise zusammengefügt hatte und so tat, als beschäftigte ich mich gerade mit etwas anderem, ihm dann aber einen schnellen Blick zuwarf, sah ich ihn verstohlen lächeln. Wenn er merkte, dass ich ihn ertappt hatte, behauptete er, über etwas anderes zu lächeln, dachte eine Weile nach und sagte dann so etwas wie:
    »Du darfst dir die Welt nicht zu kompliziert und geheimnisvoll vorstellen, Michael. Das Offensichtliche ist schon interessant und schön genug.«
    Ich wurde jedes Mal traurig, wenn er so etwas sagte, und hätte ihn am liebsten gefragt:
    »Warum hast du mich dann jahrelang Aufsätze über all die Dinge schreiben lassen, die man nie wird verstehen können?«
    Aber ich hatte Großvater zu gern und respektierte ihn zu sehr, um mit ihm zu streiten. Stattdessen beschäftigte ich mich ausgiebig mit seinen logischen Fächern und diskutierte über alles mögliche mit ihm. Margret, Großvaters Haushälterin und meine Pflegemutter seit dem Tod meiner Eltern, als ich noch im Säuglingsalter war, sagte, ich dürfe den alten Mann nicht zu viel reden lassen.
    »Er ereifert sich immer so, und das ist für einen Mann seines Alters nicht gut.«
    Ich versicherte ihr, das Reden würde Großvater jung halten, und er würde bestimmt still während eines traumlosen Schlafs sterben, falls er sich nicht als unsterblich entpuppen sollte. Doch Margret hatte recht: Großvater war alt und gebrechlich geworden. Nach dem Prozess schien er jegliches Interesse am Leben verloren zu haben und nur noch für mich zu leben. Ich weiß noch, wie er mir einmal, als ich mich mit vierzehn nach seinem Gesundheitszustand erkundigt hatte, über den Kopf strich und sagte:
    »Mir geht es gut, Michael, ich werde nicht sterben, bevor du siebzehn und unabhängig bist.«
    Ich hätte ihn gerne gefragt, wie er versprechen konnte, noch drei Jahre zu leben, schwieg aber lieber. Mir stiegen Tränen in die Augen, und ich konnte an nichts anderes denken, als dass Großvater sterben würde, wenn ich siebzehn werden würde, wie er gesagt hatte. Danach hörte ich ihm aufmerksamer zu und versuchte, ihn nicht mit Fragen zu ermüden, über die er nicht diskutieren wollte. Es gab Hunderte solcher Fragen, daran erinnere ich mich, und sie hielten mich nachts wach. Doch auch wenn ich mir fest vorgenommen hatte, Großvater am nächsten Morgen eine dieser Fragen zu stellen, schwieg ich, sobald ich ihn am Frühstückstisch traf oder ihm das Tablett von Margret ans Bett brachte. Wenn ich in seine Augen schaute und seine innere Gelassenheit spürte, begleitet von
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