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Die Rückkehr der Jungfrau Maria

Die Rückkehr der Jungfrau Maria

Titel: Die Rückkehr der Jungfrau Maria
Autoren: Bjarni Bjarnason
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Abreise gebeten hatte. Ich ging die Treppe hinauf, die neunte Stufte knarrte immer noch, genau unter dem Gemälde von Urgroßvater. Der große Politiker. Wollte er mir mit dem Knarren etwas sagen oder mich nur begrüßen?
    Oben war es genauso sauber und ordentlich. Ich schaute in alle Räume, außer in die Bibliothek. Wonach suchte ich? Alles war so vertraut und fremd zugleich. Ich fühlte mich fast wie ein Einbrecher in meinem eigenen Haus. Die Atmosphäre war drückender und beengender, als ich sie in Erinnerung hatte. Ich öffnete ein Fenster, das zu den Bäumen hinausging, damit niemand sehen konnte, dass jemand im Haus war. Die Vögel im Wald waren hellwach, ein Hahn krähte.
    Dann wird Margret sich bald um ihren Blumengarten kümmern.
    Als ich mich hinauslehnte, merkte ich, dass die Fensterbank feucht war. Ich untersuchte den Rahmen: Er würde bald morsch sein. Als ich nach oben schaute, sah ich Gras aus der Dachrinne wachsen. Was würde es wohl kosten, neunzig Fenster zu erneuern? Außerdem musste noch die Grundsteuer bezahlt werden, und Großvaters Vermögen war fast aufgebraucht. Ich verdiente zwar beim Zirkus gutes Geld, aber das reichte bei weitem nicht, um das Haus zu unterhalten und genug zum Leben zu haben. Und der Zirkus lief schlecht, konnte jederzeit pleitegehen und stand zum Verkauf. Ich hatte bereits mehrere Kaufangebote für das Haus bekommen. Wenn ich sie annahm, konnte ich den Zirkus kaufen. Das hätte Samuel gefreut. Aber es kam ja wohl kaum in Frage. Großvater hatte keine hohe Meinung vom Zirkus gehabt. Doch wie sollte ich das Haus instand halten? Ich konnte zwar einen Teil der Gemälde und Möbel verkaufen, aber wie lange würde das reichen? Die meisten Dinge waren in Familienbesitz, seit das Haus vor über vierzig Jahren erbaut worden war. Ich konnte doch nicht alles verkaufen, um einen Zirkus zu erwerben. Aber was sollte ich tun, wenn ich nicht alles verlieren wollte? Vielleicht versuchen, mehr zu arbeiten und bessere Ideen zu haben. Wenn ich doch nur meinen Zirkusschrank weiterentwickeln und patentieren lassen könnte. Ich begann, nach meinem alten Zauberkasten zu suchen, den ich vor langer Zeit im Werkunterricht gebaut hatte. Vergeblich suchte ich überall danach. Ich fürchtete schon, er sei verloren gegangen, als ich ohne nachzudenken in Großvaters Schlafzimmer wanderte. Als ich in den Spiegel schaute, sah ich ihn an der Wand über dem Kamin hängen.
    Was in aller Welt macht der hier?
    Ich nahm ihn herunter und musste einen Moment überlegen, wie man das Geheimfach aufbekam. Als es mir glückte, erschrak ich so sehr, dass der Kasten auf den Boden fiel. Nachdem ich mich wieder gefasst hatte, bückte ich mich und nahm vorsichtig ein kleines handgeschriebenes Buch aus der Geheimschublade. Großvaters geschwungene Schrift auf dem Einband weckte eine mit Angst vermischte Sehnsucht in mir. Auf dem Einband stand:
    Die Rückkehr der Jungfrau Maria
    Niedergeschrieben nach Traumvisionen
    von Johannes von Blomsterfeld
     
    Mit zitternden Händen schlug ich das abgegriffene Manuskript an einer beliebigen Stelle auf und las:
     
    Siebter Traum
     
    Geboren von Fleisch ist eine Jungfrau
    Mutter ist nicht Mutter
    doch ist keine andere Mutter
    Vater ist nicht Vater
    doch ist kein anderer Vater
    liebt sie die Menschheit, eine Jungfrau, wird sie geliebt
    der Mensch von allen Göttern erlöst
    liebt sie einen Mann, wird die Frau gehasst
    Herzspiegel der Menschen und zerbricht
    gebiert die Tochter Gottes
    oder vereinigt sich mit der Maschine des Todes
    nichts wird ihre Schönheit verhüllen
    obgleich sie sich jedem Auge entzieht
    Worte werden den Himmel füllen
    und viele Bücher verbleichen
    berührst du die Gesegnete mit der Hand
    spürst du dein eigenes Leid
    berühre mit dem Herzen
     
    Als ich das Buch zuklappte und weglegte, meinte ich, Großvaters Nähe zu spüren, wagte es jedoch nicht, mich umzudrehen. Nun war ich zu Hause und schaltete das Licht an.

 
    II
    An dem Tag, an dem Maria merkte, dass sie in die Pubertät kam, blickte sie in den Spiegel. Da erkannte sie, dass sie etwas Besonderes sein musste. Nicht, weil sie so schön war, sondern weil sie kein Spiegelbild hatte.
    Das ist ja seltsam, ich habe mich bisher immer im Spiegel gesehen.
    Sie probierte es mit einem anderen Spiegel, aber ohne Erfolg. Sie schaute auf ihre Hände, an ihrem Körper herunter – alles von ihr war da, genauso sichtbar wie immer. Was war geschehen?
    Vielleicht bin ich in dem Moment gestorben, als ich in die
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