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Die Rückkehr der Jungfrau Maria

Die Rückkehr der Jungfrau Maria

Titel: Die Rückkehr der Jungfrau Maria
Autoren: Bjarni Bjarnason
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genau wie bei ihrem Schwindelanfall vorhin.
    Ist das auch wirklich meine Doktorarbeit?
    Alles wies darauf hin. Sie öffnete die oberste Schublade, die voller Notizbücher, Tagebücher und loser Blätter war, auf denen sie alle möglichen Anmerkungen und Ideen notiert hatte. Sie schreckte zusammen. Die Schublade war voller leerer Blätter. Sie riss ein Tagebuch nach dem anderen heraus und blätterte darin, aber sie waren alle so leer, als sei nie ein Wort hineingeschrieben worden.
    Stimmt etwas mit meinen Augen nicht?
    Sie ging zum Bücherregal, nahm eine Taschenbuchausgabe des Neuen Testaments heraus, schlug sie an einer beliebigen Stelle auf und las die kleingedruckte Schrift:
    »Himmel und Erde werden vergehen, meine Worte aber werden nicht vergehen.«
    Maria stellte das Buch zurück ins Regal und ging mit langsamen Schritten in die Küche zu der Tafel, an die sie eine Menge Notizen und Kommentare zwischen Zeitungs-und Zeitschriftenausschnitte gehängt hatte. Alle Blätter, auf die sie selbst etwas mit der Hand geschrieben oder getippt hatte, waren leer. Sie starrte die Tafel lange an, ging zum Küchentisch, ließ sich auf einen Stuhl fallen und sah aus dem Fenster. Sie hörte das Rauschen des Flusses. Hinter dem imposanten Universitätsgebäude stieg die Gischt des Wasserfalls über den Baumwipfeln auf. Ein Regenbogen. Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie flüsterte:
    »Warum?«
    Sie sank vornüber auf den Tisch und weinte sich in den Schlaf.
    Als sie erwachte, war es schon dunkel geworden. Sie ging ins Arbeitszimmer, schaltete den Computer ein und überprüfte den Speicher. Dem Datenverzeichnis nach zu urteilen befand sich nichts auf der Festplatte, und als sie die CDs prüfte, waren auch diese leer. Sie ging in die Diele, öffnete ihre Handtasche und holte ihren Geldbeutel heraus. Nachdem sie sich bekreuzigt und ein kurzes Gebet gesprochen hatte, öffnete sie ihn und nahm ihren Personalausweis in die Hand. Alles, was sie betraf, war gelöscht: Name, Ausweisnummer, Adresse. Sie zog Mantel und Schuhe an und ging nach draußen. Sie nahm den kürzesten Weg zur Unterkunft der Dozenten und klopfte bei Dr. Peter, ihrem Lehrer und Doktor der Theologie. Dr. Peter kam im Morgenmantel zur Tür. Er war schon recht betagt, aber noch sehr agil, und als er sich den Kneifer auf die Nase geklemmt hatte, sagte er:
    »Maria, kommen Sie herein!«
    »Entschuldigen Sie, habe ich Sie geweckt?«
    »Ja, und ich danke Ihnen dafür, Maria. Wir müssen wachen, denn wir wissen nicht, an welchem Tage unser Herr kommt .«
    »Ja.«
    »Ist alles in Ordnung?«
    Maria schwieg und senkte den Kopf.
    »Wenn Sie etwas bedrückt, Maria, dann sagen Sie mir einfach, was ich für Sie tun kann.«
    »Danke, Dr. Peter. Auch wenn es schon spät ist, würde ich gerne die Kopie meiner Doktorarbeit sehen, falls Sie sie zur Hand haben.«
    »Selbstverständlich, legen Sie ab und nehmen Sie im Wohnzimmer Platz. Ich bin sofort wieder da.«
    Maria ging ins Wohnzimmer, ohne ihren Mantel auszuziehen, und setzte sich. Wartete. Je länger sie auf Dr. Peters Rückkehr wartete, desto sicherer war sie sich. Nach einer ganzen Weile kam er zurück und murmelte nachdenklich:
    »Das ist merkwürdig, ich finde die Arbeit nicht. Ich verstehe das nicht. Ich habe sie doch kürzlich noch auf meinem Schreibtisch liegen sehen.«
    Maria schwieg.
    »Es tut mir leid, ich werde etwas gründlicher suchen müssen.«
    »Nein, das ist schon in Ordnung. Sagen Sie mir, Dr. Peter, Sie haben nicht zufällig einen Stoß leerer Blätter auf Ihrem Schreibtisch gefunden, mit dem Sie nichts anfangen können?«
    »Äh, ja, in der Tat, aber mir ist nicht klar, was ich mit der Dissertation gemacht habe. Warten Sie, ich suche noch einmal.«
    »Nein, das ist nicht nötig.«
    »Aber wollten Sie die Arbeit nicht sofort sehen?«
    »Kommen Sie und setzen Sie sich, ich muss Ihnen etwas sagen.«
    Dr. Peter setzte sich Maria gegenüber in den Sessel.
    »Was ist los, Maria? Sie wirken ganz anders als sonst.«
    »Ich glaube, wir werden die Dissertation nie wiederfinden.«
    »Was für ein Unfug, Sie haben nur Angst vor dem Rigorosum am Wochenende. Das ist normal, meine besten Studenten haben immer Angst, kann ich Ihnen sagen.«
    Doch Maria fiel ihm ins Wort und begann zu erzählen, was geschehen war. Sie zeigte ihm ihren namen-und nummerlosen Personalausweis und äußerte die Befürchtung, dass sämtliche Klausuren, die sie bisher an der Universität geschrieben hatte, leer seien und dass sie womöglich
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