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Die rote Antilope

Die rote Antilope

Titel: Die rote Antilope
Autoren: Henning Mankell
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er hören, wie Sanna zu erklären versuchte, wie sie zwischen den Worten hin und her sprang, als wäre das, was sie sagte, eigentlich ein Seil, das sie vor und zurück bewegte. Als sie verstummte, bohrte sich Daniel ins Heu. Er hörte, wie Alma und Edvin hereinkamen, und er merkte, daß Alma an seiner Seite in die Hocke ging. Sie legte ihm die Hand auf die Stirn.
    - Jetzt ist er wieder warm.

    - Wie soll man einen verstehen, von dem man überhaupt nichts versteht? sagte Edvin.
    - Geh jetzt, sagte Alma. Ich bleibe eine Weile hier sitzen. Daniel tat so, als würde er schlafen. Er machte tiefe Atemzüge.
    - Was ist es, was dich so beunruhigt? sagte Alma. Wie sollen wir es anstellen, daß du dich nicht zu Tode sehnst? Wie kann ein Kind so viel Kummer mit sich herumschleppen?

    Am folgenden Tag verstummte Daniel. Die Hustenanfälle traten verstärkt auf. Doktor Madsen kam mehrere Male und untersuchte ihn, aber Daniel beantwortete keine Fragen mehr. Er blieb stumm. Hinterher stand Doktor Madsen lange und sprach flüsternd und ernst mit Alma und Edvin. Am Abend kam Alma zu Daniel herein und fragte, ob er nicht doch wieder in die Küche ziehen könnte. Sie hatten keine Nachfolgerin für Vanja. Er könnte ein besseres Bett bekommen. Der Husten würde verschwinden, wenn er nicht mehr bei den Tieren lag.
    Daniel hörte, daß sie nicht meinte, was sie sagte. Der Husten hatte schon angefangen, Risse in seinem Inneren aufzubrechen.

    Zwei Wochen nach dem letzten Versuch, in die Wüste zurückzukehren, wurde Daniel mitten in der Nacht wach. Ihm war sehr warm. Als er mit der Hand über seine Stirn strich, merkte er, daß er ganz verschwitzt war. Es war Kiko, der ihn geweckt hatte. Er hatte da gestanden und die Hand über sein Gesicht gehalten, um die Augen zu beschatten, und er hatte gelacht. Er hatte nichts gesagt, aber Daniel hatte verstanden, was er meinte. Er stand von seinem Bett im Heu auf und suchte die äußerste Spitze von einem Sichelblatt hervor, das der Knecht abgebrochen hatte. Dann begab er sich hinaus in die Dunkelheit. Er lief barfuß durchs Dunkel, der Himmel war klar, und er blieb erst stehen, als er bei der Kirche angekommen war. Er hockte sich hin und hustete. Als er seine Hand an den Mund führte, merkte er, daß Blut herauskam.

    Daniel wählte einen Stein in der Kirchenmauer aus, der ganz glatt war. Da hinein ritzte er eine Antilope. Es war schwierig, und er machte viele Fehler. Die Beine waren verschieden lang, der Rücken des Tieres war viel zu gerade. Aber das Wichtigste war das Auge. Er strengte sich an, es ganz rund zu machen.

    Dann setzte er sich hin und wartete.

    Als der Husten einsetzte, strich er mit dem Zeigefinger der rechten Hand über die Lippen und schmierte das Blut dann auf das Auge der Antilope. Im Dunkel der Nacht konnte er die Farbe nicht erkennen.

    Aber er wußte, sobald die Morgendämmerung kam, würde das Auge der Antilope rot leuchten.

    29

    Jemand hatte ihn in der Nacht gesehen. Das Gerücht verbreitete sich schon früh am Morgen, und kurz nach neun versammelten sich etliche Menschen an der Kirchenmauer. Es war ein stürmischer Tag, und der Regen fiel in kräftigen Güssen. Hallen erwachte an diesem Morgen mit einem heftigen Schmerz direkt über dem einen Auge. Er lag mit einem kalten Handtuch auf der Stirn im Bett, als seine Haushälterin hereinkam und berichtete, an der Kirche würden Leute zusammenströmen, und jemand hätte ein Bild in die Friedhofsmauer geritzt. Hallen hatte schon lange die Vermutung, daß ihr Verstand sich auf ihre alten Tage langsam trübte. Aber er erhob sich aus dem Bett, da sie nicht in der üblichen Weise verwirrt schien. An der Friedhofsmauer war etwas vorgefallen, oder aber es ging dort gerade etwas vor. Hallen preßte die Faust fest gegen den schmerzenden Punkt über dem Auge und verließ das Pfarrhaus.

    Als er auf das Tor zuging, konnte er die Volksmenge an der linken Seite der Friedhofsmauer sehen. Hallen überlegte mit Sorge und Unbehagen, ob ein Selbstmörder diesen unglückseligen Platz ausgewählt haben könnte, um seinem Leben ein Ende zu machen. Der Gedanke war nicht abwegig, denn der alte Glaube, daß Selbstmörder außerhalb des Friedhofs begraben werden sollten, wurde von vielen seiner Gemeindemitglieder geteilt. Er verzog das Gesicht, vom Schmerz über dem Auge ebenso geplagt wie von dieser Vorstellung. Wenn es ein Selbstmörder war, hoffte er, daß es nicht allzu viel Blut gab. Er blieb stehen, tat ein paar tiefe Atemzüge und versuchte,
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