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Die rote Agenda

Die rote Agenda

Titel: Die rote Agenda
Autoren: Liaty Pisani
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»Bist du mit Elvira in Messina?«
    »Das geht
dich nichts an. Wie es mich ja offenbar nichts angeht, wohin du am frühen
Morgen verschwindest. Von der Geschichte mit meiner Mutter mal ganz abgesehen.
Ich habe deine Versteckspiele und Lügen satt, Lorenzo.«
    Trapani
ging auf die Provokation nicht ein. In Kürze würde die Kolonne des Präsidenten
auf die Brücke fahren.
    »Betta, zum
letzten Mal: Sag mir, wo du bist!«, sagte er in einem Ton, der keinen
Widerspruch duldete. »Ach, vergiss es, ich weiß es ja: Du bist zusammen mit
Elvira auf der Ehrentribüne bei der Einweihung. So ist es doch, oder?«
    »Und wenn
es so wäre?«
    Trapani hob
den Blick zum Himmel, presste den Kiefer zusammen und sprach langsam, jedes
einzelne Wort betonend. »Du musst von dort weg. Ein Chauffeur wartet direkt vor
der Tribüne im Wagen auf dich. Denk dir eine [397]  Entschuldigung aus und geh
fort. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?«
    Die
plötzliche Veränderung in der Stimme ihres Mannes erschreckte Betta. Sie merkte
mit einem Mal, Lorenzo war nicht wütend über ihre Auflehnung, sondern besorgt.
    »Warum? Was
ist denn los?«, fragte sie beunruhigt.
    »Vertrau
mir«, sagte er ganz ruhig.
    Gegenüber
der Erfüllung dessen, worauf er seit Jahren hingearbeitet hatte, verlor selbst
die Sicherheit seiner Frau an Bedeutung. Der gleiche Fatalismus, der ihm
geholfen hatte, die vielen Verbrechen, die er erlebt, aber auch begangen hatte,
zu vergessen, ließ ihn nun ruhig werden. Betta konnte auf ihn hören und damit
einer Gefahr ausweichen, oder sie konnte ihrem Schicksal entgegengehen. Wenn
ihr dann etwas zustoßen sollte, würde er zwar um sie trauern, aber nicht einmal
für sie würde er auf seine Rache verzichten.
    Sie
schwiegen beide lange, und zum Schluss kapitulierte Betta. Und zwar nicht, weil
sie ihm vertraute, sondern weil sein Ton so kalt und emotionslos war. Sie
fragte sich, ob der Grund, weshalb sie die Tribüne verlassen sollte, mit dem
dunklen, geheimnisvollen Teil seiner Persönlichkeit zu tun hätte, von dem sie
immer ausgeschlossen gewesen war. Und plötzlich verstand sie, dass sie
ebendeshalb seine Warnung nicht ignorieren konnte.
    »In
Ordnung, ich tue, was du sagst. Aber zum letzten Mal.«
    Trapani
stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Gut. Der Chauffeur wird in wenigen
Minuten bei dir sein.«
    Betta
beendete die Verbindung, ohne auch nur zu antworten.

[398]  64
    Als
der Präsident der Republik seine Rede beendet hatte, schnitt er im
Blitzlichtgewitter der Fotografen mit der eigens für diesen Anlass
angefertigten goldenen Schere das Band in den italienischen Farben durch und
winkte dann lange der Menge zu. Er freute sich festzustellen, wie viel Beifall
und Bewunderung seine Anwesenheit auslöste. Er lächelte, lächelte, bis ihm das
Gesicht weh tat, und stieg dann, das Herz voller Dankbarkeit für dieses ihn
liebende Volk, ins Auto.
    Der
Ministerpräsident und die anderen Politiker, die bei dieser ersten,
historischen Fahrt über die Brücke dabei waren, taten es ihm nach. Die vier
schwarzen, gepanzerten Geländewagen, die so groß waren, dass man sie von beiden
Küsten aus gut sehen konnte, fuhren, von den Fernsehkameras verfolgt, langsam
auf die Brücke.
    Nachdem sie
zweihundert Meter zurückgelegt hatten, beschleunigten die Wagen und ließen den
ersten riesigen Pfeiler hinter sich, um dann auf diesem schwarzen, über dem
Meer hängenden Asphaltband volle Fahrt aufzunehmen.
    Die Musik,
die die festliche Abfahrt begleitet hatte, hörte auf zu spielen, als die Wagen
kleiner wurden und ihnen nur noch die Polizeihubschrauber und die Boote der
Hafenwache folgten.
    [399]  Die
Privilegierten, die das Durchschneiden des Bands aus der Nähe miterlebt hatten,
begannen die Ehrentribüne zu verlassen und sich auf dem Vorplatz zu verlaufen.
Es lag so etwas wie ein Gefühl der Erleichterung in der Luft: Die Politiker
waren schon weit weg, bald würden sie die imaginäre Grenze zwischen der Insel
und dem Kontinent hinter sich gelassen haben, und es wäre an den Kalabriern,
sie zu empfangen. Messina hatte seine Pflicht getan, jetzt konnte die Stadt das
Fest genießen.
    Elvira und
Betta saßen schon in Trapanis Wagen, der vom Chauffeur gelenkt wurde. Die Frau
des Paten hatte nicht wenig Mühe gehabt, eine plausible Entschuldigung zu
erfinden, um ihre Freundin vor dem Ende der Zeremonie wegzulotsen, doch es war
ihr gelungen. Eine rührselige Geschichte – die Scheidung stehe kurz bevor, was
ja vielleicht sogar stimmte –
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