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Die Rettung

Titel: Die Rettung
Autoren: Julianne Lee
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denke ich.« Mit weicher, etwas wehmütiger Stimme fuhr sie fort: »Er scheint ein tapferer Mann gewesen zu sein. Ein guter Mensch.«
    Iain entspannte sich sichtlich. Er nickte, blickte kurz zur Seite und bestätigte dann: »Er war ein großer Mann, ein wahrer Held. Ein zweiter Cuchulain, wie manche behaupten. Und ich weiß aus sicherer Quelle, dass er von seinen Leuten geliebt und verehrt wurde.«
    Barri wandte den Blick ab und starrte einen Moment lang ins Feuer. Als sie Iain wieder ansah, bemerkte sie, dass sein Gesichtsausdruck sanfter geworden war. Flüchtig fragte sie sich, ob er wohl ahnte, dass er über ihren Sohn sprach. Doch dann tat sie den Gedanken hastig als Unsinn ab. Wie sollte er auf eine so abwegige Idee kommen?
    Iain lächelte sie an. »Möchten Sie vielleicht sein Grab sehen?«, fragte er.
    Eine kalte Hand griff nach ihrem Herzen. Dylans Grab? Würde sie diesen Anblick ertragen können? Sie spürte förmlich, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. »Er liegt hier begraben?«
    »Auf dem Friedhof der Kirche Unserer Lieben Frau vom See, ein paar Meilen östlich von hier. Wenn Sie möchten, fahre ich Sie hin.«
    Barris erster Impuls bestand darin, das Angebot abzulehnen. Doch dann besann sie sich. Eine Welle widersprüchlicher Gefühle schlug über ihr zusammen. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie sah sich das Grab an, oder sie ließ es bleiben. Wenn sie es besuchte, bestand Gefahr, dass sie völlig zusammenklappte und sich lächerlich machte. Aber wenn sie Schottland verließ, ohne das Grab ihres Sohnes gesehen zu haben, würde sie sich ihr Leben lang Vorwürfe machen, Dylan sozusagen verraten zu haben. Schließlich nickte sie. »Ich würde das Grab sehr gerne sehen.«
    Iain erhob sich und hielt ihr eine Hand hin.
    Die katholische Kirche Unserer Lieben Frau vom See lag auf einer kleinen Anhöhe, an deren Fuß sich ein mit Schotter bestreuter Parkplatz befand. Barri betrachtete sie nachdenklich, während sie die Beifahrertür von Iains Jaguar schloss. Die Kirche war ziemlich klein und schien fast so alt wie die Burg zu sein. Ein prächtiges Buntglasfenster erglühte im Schein der letzten Sonnenstrahlen in leuchtenden Rot-, Grün- und Blautönen. Sie stieg die steinernen Stufen empor, die zum Friedhof führten. Vor der Kirche stand ein verwittertes Schild, das die Besucher darauf hinwies, dass der Gottesdienst täglich um halb zwei stattfand. Iain, der ihr gefolgt war, blieb bei diesem Schild stehen.
    Barri, die schon fast bei den ersten Grabsteinen angelangt war, drehte sich zu ihm um und wunderte sich erneut darüber, wie vertraut er ihr vorkam. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als ihr bewusst wurde, dass sie ihrem eigenen Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßenkel gegenüberstand, der nur wenige Jahre junger war als sie selbst. Er sah weder ihr noch Dylan noch irgendeinem der Mathesons ähnlich, die sie in Schottland oder den USA kennen gelernt hatte, und dennoch ...
    »Stimmt etwas nicht?« Ihr forschender Blick war ihm nicht entgangen.
    »Kommen Sie nicht mit?«
    Ein leises Lächeln spielte um seine Lippen. »Nein, ich warte hier. Sie können das Grab gar nicht verfehlen, es ist eines von drei mit weißen Steinen geschmückten Gräbern in der Reihe in der Mitte.« Er deutete in die entsprechende Richtimg, dann schob er die Hände in die Hosentaschen.
    Barri drehte sich um. In diesem Moment hörte sie ihn leise murmeln: »Och, ich habe es doch mit eigenen Augen gesehen, wie du sehr wohl weißt.« Die Worte waren ganz offensichtlich nicht für sie bestimmt. Sie wandte sich noch einmal um und stellte fest, dass er den Blick auf eine Stelle vor ihm im leeren Raum gerichtet hatte. Es sah aus, als würde er mit einer sehr kleinen, unsichtbaren Person sprechen. Einen Moment herrschte Stille, dann murmelte er: »Das ist mir egal. Ich habe getan, was ich für richtig hielt, und du weißt, dass es auch sein Wunsch war, sonst hätte er ja nicht dafür gesorgt, dass ...« Eine weitere Pause, dann: »Ich bleibe hier und passe auf. Mach dir keine Sorgen. Alles wird gut gehen.« Dann verstummte er, und Barri ging auf die Gräber zu.
    Der Friedhof war klein und wirkte eher schlicht, nicht die Art viktorianischer Friedhof voll kunstvoll behauener Granitsteine und Marmorskulpturen, mit denen die reichen Familien sich gegenseitig zu übertrumpfen versuchten. Nur hier und da entdeckte sie den einen oder anderen Grabstein, der bewies, dass auch Mitglieder des Matheson-Clans zu bescheidenem Wohlstand gelangt
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