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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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körperliche Mühen gab man daher
verschiedenen Automanipulatoren in Pacht, die man auch gegen die
Nachbarn einsetzen konnte, doch die anstrengende geistige Arbeit blieb.
Wir konzipierten deshalb eine an unserer Statt erfindende Industrie,
wie Denk- und Ideenmühlen, welche die Welt zu Ziffern zermahlten
und im Gemahlenen die Spreu vom Weizen trennten. Zuerst baute man sie
aus Bronze, aber die mußten gewartet werden, und auch das macht
müde, wir züchteten also aus gewöhnlichen Kälbern
Zählber, die ihr Leben an der Krippe verbrächten, gefuttert
mit Komputationen und Meditationen. So handelten wir uns auch die erste
Arbeitslosigkeit ein.
    Befreit von aller Mühsal, hätten wir
genügend Zeit zum Nachdenken und bemerkten, daß alles nicht
so war, wie es sein sollte: das Fehlen von Armut bedeutet noch keine
Wonne. Da machten wir uns daran, das Gesetz umgekehrt zu praktizieren,
und erprobten jede in ihm genannte Hauptsünde nicht mehr voller
Angst und im verborgenen, sondern trotzig, öffentlich und mit
wachsendem Gefallen. Die Versuche zeigten, wie wenig appetitlich die
meisten dieser Sünden sind, so konzentrierten wir uns bei Beginn
der Neuzeit auf das vielversprechende Techtelmechteln beziehungsweise
Verkehrspielen zu zweit, in Gruppen oder solo. Dieses ziemlich
dürftige Repertoire bereicherten wir durch Neuerervorschläge,
die hohe Effektivität versprachen, was zur Entwicklung von
Sexpandern, Libidostaten und Masturbatoren führte – bis
jeder Semenid in seinem Sodomizil eine komplette Sammlung von
Lustmaschinen besaß. Nach dem Geschmack der Kirchen war das
nicht, gleichwohl drückten sie die Augen zu, denn die Zeit der
Kreuzzüge war vorbei und es stand nicht sonderlich gut um sie. Im
Fortschritt führend war der erste Staat von Semenia, Kotaurien,
der in einer allgemeinen Volksabstimmung das geflügelte Raubtier
im Staatswappen in den Pornopteryx – den Pornogreifen –
umwandelte. Die Kotaurier, die im Wohlstand schwelgten, lösten
alles auf, was sich noch nicht völlig in Auflösung befand,
und der übrige Planet eiferte ihnen je nach den örtlichen
Möglichkeiten nach. Kotauriens Devise lautete OMNE PERMITTENDUM ,
denn diese allbefreiende Erlaubnis bildete das Fundament seiner
Politik. Nur der semenidische Mediävalist, der sich durch unsere
mittelalterlichen Chroniken durchgearbeitet hat, wird die verbissen
vorgebrachten Revindikationen richtig verstehen, denn hier handelte es
sich um das tatsächliche Abwerfen uralter Askese und
Unterwürfigkeit. Nur wenige bemerkten, daß dem Buchstaben
des Gesetzes weiterhin Genüge getan wurde, allerdings mit
umgekehrtem Vorzeichen.
    Besonders die Künstler, die sich die Haut vom
Leibe schufteten, um uralte Rückstände aufzuholen,
gründeten Offizinen, die sogenannten Sudelarien; ihre einzige
Sorge war, daß niemand ihre Unverfrorenheit überbot. Die
Hymne der an der Spitze der Radikalen marschierenden Jugend lautete,
soweit ich mich erinnere:
Kupferne Stirnen –
strahlendes Fanal!
Wir rädern Mama,
spießen sie auf den Pfahl.
Papa buchen wir ab,
stoßen beide ins Grab.
Mama voran, Papa sodann, könnens auch umgekehrt haben. Hau-ruck und amen!
    Das Geistesleben blühte. Der Vergessenheit
entrissen wurden die Werke eines gewissen Marquis d’Arche, die
besondere Beachtung verdienen, weil sie den weiteren Verlauf unserer
Geschichte beeinflußt haben. Zwei Jahrhunderte zuvor hatte der
Henker ihn als Pissoirliteraten davongejagt, und seine Werke landeten
auf dem Seheiterhaufen. Zum Glück hatte der vorsorgliche Marquis
Abschriften angefertigt. Dieser Märtyrer und Wegbereiter des Neuen
verkündete den Zauber der Scheußlichkeit und die Tugend der
Untugend keineswegs aus egoistischen, sondern aus prinzipiellen
Erwägungen. Die Sünde ergötzt bisweilen, schrieb er,
aber sündigen muß man, weil es verboten, und nicht, weil es
angenehm ist. Wenn es einen Gott gibt, muß man es ihm zum Possen
tun, und wenn es ihn nicht gibt – sich selbst: so oder so
manifestiert sich völlige Freiheit. Deshalb empfahl er auch in dem
Roman »Zotilie« die Koprolatrie als Kult des Unflats,
zelebriert auf Gold und begleitet von Dankchorälen. Wenn es ihn
nämlich nicht gäbe, erklärte er, müsse man ihn
unbedingt erfinden. Für etwas weniger verdient hielt er die
Verehrung anderer Ausscheidungen. In Familienangelegenheiten war er ein
Prinzipienreiter: Die Familie müsse mit Stumpf und Stiel
ausgerottet oder, noch besser, dazu gebracht werden, sich selbst
auszurotten. Diese aus der
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