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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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schickte, an die
Fabrik- und Arsenalcomputer gerichtet, diese sollten ihr
Gedächtnis umgehend restlos löschen, was auch geschah. Als
sei das noch nicht genug, besiegelte der Klugleos jenen Angriff an der
Gesamtfront, indem er die Personalien des Gegners, vorn
Oberbefehlshaber angefangen bis zum letzten Elektrottel, vermischte und
heillos durcheinanderbrachte. Die Situation erschien hoffnungslos,
obwohl man schon die letzten, noch nicht von feindlichen Lügen
vernagelten Lug- und Trugwerfer in Stellung rollte und ihre
Mündungen nach unten richtete. Die Stabsoffiziere, die das
Nutzlose dieser Aktion begriffen, verlangten endlich die Eröffnung
von Täuschungskreuzfeuer, um Lüge durch Lüge zu
vergelten, und sollte man fallen, dann wenigstens mit nichterlogener
Ehre. Der Führer wußte jedoch, daß er den Usurpator
auch nicht mit einer einzigen Salve streifen würde, weil es
für den nichts Einfacheres gab, als die totale Blockade zu
verhängen, nämlich die Kommunikation zu unterbrechen und
absolut nichts zur Kenntnis zu nehmen. Er bediente sich in jenem
tragischen Augenblick einer verzweifelten List: Er befahl, den Klugleos
mit dem gesamten Inhalt aller Staatsarchiv und karthotheken zu
bombardieren, das heißt mit der lauteren Wahrheit, wobei man
vorrangig Staatsgeheimnisse und geheimste Pläne stapelweise in die
Tiefe der Semenia hinabließ, die preiszugeben oder auch nur
teilweise zu enthüllen Hochverrat bedeutete.
    Der Klugleos konnte sich der gierigen Durchsicht so
wichtiger Daten nicht enthalten, die von der selbstmörderischen
Verwirrung des Gegners zu zeugen schienen. Indessen fügte jener
den supergeheimen Informationen in zunehmendem Maße weniger
wichtiges Material bei. Aber der Klugleos nahm aus Gewohnheit und
Interesse alles ab und schluckte weitere Lawinen von Bits. Als der
Vorrat geheimer Staatsverträge, Spionagerapporte,
Mobilisierungspläne und Strategischer Aufzeichnungen bereits
versiegte, öffnete man die Schleusen der Speicher, wo die uralten
Mythen, Sagen und Überlieferungen, die Märchen und Legenden
der Urmenschen, die heiligen Bücher, Apokryphen, Enzyklen und
Hagiographien ruhten. Aus den Pergamentfolianten extrahiert, wurden sie
in die Tiefe der Semenia gepreßt, und der usurpatorische
Ziffrokrat verschlang aus Impedanz und Arroganz oder aus Sturheit und
Schwerfälligkeit alles grenzenlos gefräßig und
unersättlich, obwohl er an dem Übermaß der Bits
würgte, die ihm zuletzt auch als Elektronenknochen im Hals
steckenblieben, denn nicht der Inhalt, sondern die Menge der Daten
erwies sich als mörderisch. Die reinste Wahrheit, zu einer
geballten Ladung gebündelt, traf den Klugleos auf jeder
Transistorenseite, durchschlug seine Sicherungen, überschwemmte
seine Kasematten, die noch voller unabgeschossener Verlogenheiten
steckten, und sprengte sie restlos auseinander, bis die meilenlangen,
in der Hirnschale des Planeten zu einem kunstvollen Dickicht verwobenen
Bitkolonnen im Augenblick zu Kupfer zerrannen und die Semenia wieder,
wie vor Urzeiten, angefüllt mit glühendem Metall um die Sonne
kreiste.
    So, wie er in der Stille begonnen hatte, hörte
der erste Informationskrieg der Geschichte auch in der Stille auf.
Alles schien beim alten zu sein, in Wirklichkeit jedoch brauchte man
ein Vierteljahrhundert, um das Chaos der ersten Minute des Ringens
Teilchen um Teilchen zu entwirren. Zu einstigem Glanz erhob sich die
semenidische Zivilisation erst wieder nach vierzig Jahren.
    Dieser Krieg hatte tiefe Spuren im geistigen Leben
der Semenia hinterlassen, erbitterte Dispute unter zivilen und
militärischen Historikern ausgelöst. Die einen behaupteten,
nicht die Quantität habe die Qualität besiegt, sondern die
Wahrheit die Lüge, denn wir hätten die Desinformation durch
ehrliche Information bezwungen.
    Ähnlich war der offizielle Standpunkt der
kirchlichen Geschichtsschreibung, die in der Rettung der Semenia eine
Intervention der Vorsehung als der Höchsten Wahrheit sah.
    Die Rationalistenschule behauptete das genaue
Gegenteil – die zahllosen unerträglichen Widersprüche,
mit denen die theologischen Schriften vollgestopft seien und aus denen
man die letzten Ladungen gebündelt hatte, hätten die logische
Natur des Klugleos zerstört. Die Semenia verdanke ihre Rettung
zwar der Religion, aber nicht auf die Art, die ihren Bekennern gefalle.
    Es fanden sich auch Anthroposophen, die weder dem
einen noch dem anderen oder dem dritten zustimmten: Auf Verrat sei mit
Verrat geantwortet worden,
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