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Die Regenbogentruppe (German Edition)

Die Regenbogentruppe (German Edition)

Titel: Die Regenbogentruppe (German Edition)
Autoren: Andrea Hirata
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im östlichsten Zipfel von Belitung, in der ärmsten Gegend der Insel. Für Lintang war die Kleinstadt, in der sich unsere Schule befand, eine Art Metropole. Um mit dem Fahrrad dahin zu kommen, musste er vor Tagesanbruch losfahren.
    Lintangs Familie hatte es über Generationen nicht geschafft, sich aus der Armut zu befreien, die alle Malaien traf, die Fischerei betrieben. Das Meer lag zwar vor der Tür, aber sie besaßen keine eigenen Boote und waren deshalb von anderen abhängig. In diesem Jahr allerdings hatte Lintangs Vater beschlossen, dass etwas geschehen müsse, damit zumindest einer seiner Söhne diesem Kreislauf entkam. Wenn die täglichen vierzig Kilometer auf roten Kieswegen, die Lintang jeden Tag mit dem Fahrrad zur Schule fahren musste, seine Begeisterung allerdings brechen sollten, dann sei es ein Wink des Schicksals, dass er ebenfalls Fischer werden sollte.
    Lintang würde also neben mir, dem anderen kleinen Jungen mit krausen Haaren sitzen. Der Brandgeruch, der mir vorhin in die Nase gestiegen war, rührte von seinen Cunghai-Sandalen her, die aus Autoreifen gefertigt und schon ganz ausgefranst waren.
    Als ich Lintang in die Klasse folgte, begrüßte er mich mit einem unerwartet kräftigen Handschlag. Er sprach unablässig mit Feuereifer in jenem etwas eigenartigen Belitunger Dialekt, der für die Leute aus den abgelegenen Gegenden typisch ist. Seine Augen leuchteten. Er war wie eine Pilea, eine Kanonierblume. Wenn ein Tropfen Wasser auf ihre Blätter fällt, schleudert sie ihren Blütenstaub von sich und entfaltet sich, voller Glanz und Vitalität.
    Bu Mus teilte Formulare an die Eltern aus, auf denen Name, Beruf und Anschrift eingetragen werden sollten. Alle machten sich ans Ausfüllen, nur Lintangs Vater nicht. Der nahm zögernd das Blatt und hielt es von sich gestreckt wie etwas sehr Fremdartiges. Er stand da und rührte sich nicht vom Fleck.
    »Frau Lehrerin …«, sagte er leise, »entschuldigen Sie, aber ich kann nicht lesen und schreiben.« Ohne Umschweife bekannte er ebenfalls, dass er nicht einmal sein Geburtsjahr wisse.
    Da stand Lintang auf, trat zu seinem Vater und nahm ihm den Fragebogen aus der Hand. Er rief: »Ich werde das Formular später ausfüllen, Frau Lehrerin, wenn ich lesen und schreiben gelernt habe.«
    Alle waren verwundert, dass ein so kleiner Junge seinem Vater beistand.
    Lintang drehte seinen Kopf aufgeregt nach allen Seiten wie eine Nachteule. Mit weit aufgerissenen Augen staunte er alle Gegenstände im Klassenraum an: das lange Lineal, die Blumenvase aus Keramik auf dem Tisch von Bu Mus – ein Produkt des Werkunterrichts der Klasse sechs –, die abgenutzte Wandtafel, die zertretenen Kreidereste auf dem Boden.
    Lintangs Vater beobachtete die wachsende Begeisterung seines Sohnes mit einem vagen Lächeln. Dieser Mann, der das Datum seiner Geburt nicht kannte, dachte an den Tag, an dem es seinem Sohn das Herz brechen würde, wenn er in der zweiten oder dritten Klasse womöglich von der Mittelschule würde abgehen müssen, weil er, der Vater, die Kosten nicht mehr aufbringen konnte oder weil der Sohn sogar zum Lebensunterhalt der Familie beitragen musste. Für Lintangs Vater war Bildung ein Rätsel, eine Art Wunder. Von den vier Generationen, die er zurückdenken konnte, war Lintang der Erste, der zur Schule gehen konnte. Die Generationen davor gehörten ins Antediluvium, in die Zeit vor der Sintflut, als die Malaien noch als Nomaden herumzogen. Damals trugen sie Kleider aus Baumrinde und beteten den Mond an.
    *
    An diesem ersten Morgen neben meinem Sitznachbarn sah ich eine Szene, die mir später noch oft in den Sinn kam. Ich beobachtete Lintang, wie er unbeholfen einen großen Bleistift in die Hand nahm, als wäre es ein Küchenmesser. Sein Vater hatte ihm den falschen Stift gekauft. Er hatte zwei farbige Enden, eines rot, das andere blau. Ein Stift, wie ihn ein Schneider benutzt, um den Stoff zu markieren, oder ein Schuster, um den Schnitt auf das Leder zu übertragen. Jedenfalls kein Stift, der zum Schreiben taugt. Auch das Heft, das er dabeihatte, war das falsche, eines mit Hilfslinien. Solche Hefte brauchte man erst in der zweiten Klasse für die Schreibschrift. Was ich jedoch ewig bestaunen werde, ist die Tatsache, dass ein bitterarmer Fischersohn, der damals zum ersten Mal in seinem Leben einen Stift und ein Schreibheft in der Hand hielt, uns in den folgenden Jahren immer wieder mit seinem hellen Verstand faszinierte. Lintang überstrahlte mit seinen Geistesblitzen
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