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Die Regenbogentruppe (German Edition)

Die Regenbogentruppe (German Edition)

Titel: Die Regenbogentruppe (German Edition)
Autoren: Andrea Hirata
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einer Staubwolke nachwinken.
    Am Tag darauf besuchte ich den Lastwagenfahrer in seiner Baracke an der Quarzsandgrube. Die Unterkunft lag direkt am Strand, hatte keine Türen, war eher ein Stall. Dutzende von Fahrern, die im Akkord arbeiteten und sich rund um die Uhr abwechselten, um die Lastkähne zu füllen, kamen hier zu Ruhepausen zusammen. So wurden Tausende von Tonnen der Bodenschätze Belitungs weggeschafft, niemand wusste wohin.
    Ich betrat die Unterkunft und sah mich darin um. In der Mitte stand ein großer Ofen, an dem sich die Leute, die ständig dem Wind vom Meer ausgesetzt waren, aufwärmen konnten. In den Ecken stapelten sich Dosen mit Diesel, daneben Wagenheber, verschiedene Schraubenschlüssel, eine Ölpumpe, dazwischen Zigarettenschachteln und Kanister mit Trinkwasser, alles dreckig und ölverschmiert. Auf dem Boden lagen schwarz verrußte Töpfe, Teller und Dosen, Schachteln mit Mückenmitteln, Tüten mit Kaffee und Fertignudeln herum, zwischendrin ein zerschlissener Gebetsteppich. Schief an der Wand hing ein Kalender mit Bikinimädchen. Wir hatten jetzt Mai, aber das Blatt vom März hatte noch niemand abgerissen, vielleicht war man übereingekommen, das Märzmädchen sei das attraktivste von allen.
    Lintang saß auf einem ausgefransten Sofa unweit des Ofens und sah mich an. Er war dreckig, arm, unterernährt, und ich war mir sicher, dass er noch Junggeselle war.
    Ich sagte nichts. Er hatte es wohl aufgegeben, gegen sein Schicksal anzugehen. Seine Arme waren von der schweren Arbeit fest und stark, aber sonst wirkte er dünn und zerbrechlich. Aus den Augenwinkeln blitzte noch dieselbe Klugheit wie früher, und sein feines heiteres Lächeln hatte er sich erhalten, wenn auch seine Haut ölverschmiert glänzte. Sein zerzaustes Haar war eine Spur roter geworden. Als ich mir Lintang in dieser Umgebung ansah, stieg Mitleid in mir auf, weil seine Intelligenz nutzlos verkam.
    Ich schwieg noch immer. Es schnürte mir das Herz zu. Die Baracke stand auf einer Landzunge, die sich flach ins Meer erstreckte. Ich vernahm das dumpfe Geräusch eines Schleppers, der langsam mit einem Lastkahn vorbeituckerte. Der Schiffsmotor ließ die Pfosten des Gebäudes erzittern, dicker Qualm drang durch die Ritzen. Die feinen Bugwellen brachen sich am Ufer und hinterließen dort einen bunten Ölschleier.
    Ich verfolgte den Schlepper mit meinen Blicken, und für einen Moment glaubte ich, was sich bewegte, wäre nicht das Boot, sondern die Baracke und mit ihr auch ich. Lintang beobachtete mich und las wie früher in der Schule meine Gedanken.
    »Einsteins Relativität der Gleichzeitigkeit …«, sagte er bitter lächelnd. Der Gedanke an die Schulzeit machte ihn traurig.
    Ich musste auch lächeln. Ich begriff, dass er nicht dasselbe sah, was ich eben gesehen hatte. Wenn zwei Menschen denselben Vorgang aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten, haben sie unterschiedliche Wahrnehmungen. Deswegen sprach Lintang von Gleichzeitigkeit. Und so blickten wir beide auch aus einer unterschiedlichen Perspektive auf unser Leben.
    Nicht lange danach näherte sich ein weiterer Schlepper aus der Gegenrichtung. Das Heck des Schleppers von vorhin war noch nicht ganz verschwunden. Ich blickte nach rechts und links, um die Länge der beiden Boote miteinander zu vergleichen.
    Lintang beobachtete mich und wusste wieder sofort, was ich dachte.
    »Paradox«, bemerkte ich.
    Lintang lächelte.
    »Relativ«, sagte er. »Dass die Größe eines bewegten Objektes einem Beobachter, der stillsteht, anders erscheint als einem, der sich bewegt, beweist, dass Zeit und Raum nicht absolut sind, sondern relativ. Das ist das erste Axiom, mit dem Einstein seine berühmte Relativitätstheorie einleitete und sich damit von Newton absetzte.«
    Das war Lintang! Seitdem ich ihn kannte, konnte ich nicht anders, als ihn rückhaltlos zu bewundern. Sein Verstand war so scharf wie eh und je. Nur seine lebhaften Augen sahen nun aus wie Murmeln, die nach dem Spielen im Sand etwas Glanz eingebüßt haben.
    Nachdenklich betrachtete ich Lintang. Traurigkeit überkam mich. Ich stellte mir vor, wie er mit langen weißen Hosen und einer eng anliegenden Weste über einem meerblauen Hemd ans Rednerpult tritt, um vor einem erlesenen Forum von Wissenschaftlern einen Vortrag zu halten. Er hatte eine bahnbrechende wissenschaftliche Entdeckung vorzustellen, in der Meeresbiologie oder in der Kernforschung.
    Ich fand, er habe ein größeres Recht, im Ausland aufzutreten und ein begehrtes
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