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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut
Autoren: Margaret Atwood
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Gelände gesehen. Sie hat eine Blume gepflückt, eine Art hartstielige Wicke; sie hat sie in der Bibel gepreßt, sie hat sie in ihr Album geklebt, unter L. für Lavaur. Sie hat ein Souvenir gekauft, ein kleines, mit Lavendel gefülltes Satinkissen. Die Ortseinwohner behaupten, daß Dame Giraude immer noch da ist, im Brunnen. Das war alles, was den Leuten damals für Frauen wie sie einfiel: sie in Brunnen zu werfen oder sie von hohen Felsen oder Brüstungen zu stürzen – von irgendeiner erbarmungslosen Vertikalen – und zuzusehen, wie sie zerplatzten.
    Vielleicht wird Tony über Dame Giraude schreiben, irgendwann. Eine Studie weiblicher Militärführer. Eiserne Fäuste in Samthandschuhen , könnte sie das Buch nennen. Aber es gibt nicht viel Material.
     
    Im Augenblick hat sie keine große Lust, sich mit dieser Schlacht zu beschäftigen; sie ist nicht in der Stimmung für Gemetzel. Sie steht von ihrem Stuhl auf und holt sich ein Glas Wasser; dann breitet sie eine Straßenkarte über das Europa des dreizehnten Jahrhunderts, einen Stadtplan des Zentrums von Toronto. Hier ist das Toxique, hier ist die Queen Street, hier ist Roz’ renoviertes Bürogebäude; hier ist die Fähranlegestelle und die flache Insel, auf der Charis’ Haus immer noch steht. Da drüben ist das Arnold Garden Hotel, das jetzt nur noch ein großes, lehmiges Loch in der Erde ist, ein Ort zukünftiger Bauvorhaben, denn bankrotte Hotels sind billig zu haben, und irgendjemand hat ein gutes Geschäft gemacht. Hier ist die McClung Hall, und hier, weiter nördlich, Tonys eigenes Haus, mit West darin, der oben im Bett liegt und im Schlaf leise stöhnt; mit diesem Keller darin, mit dem Sandkasten darin, mit der Karte darauf, mit der Stadt darauf, mit dem Haus darin, mit dem Keller darin, mit der Karte darin. Karten, denkt Tony, enthalten den Grund, der sie enthält. Irgendwo in diesem ins Unendliche zurücktretenden Raum existiert Zenia immer noch.
    Tony braucht die Karte aus demselben Grund, aus dem sie Karten immer benutzt: sie helfen ihr zu sehen, sie helfen ihr, sich die Topologie vorzustellen, sich zu erinnern. Woran sie sich erinnert, das ist Zenia. Sie schuldet ihr diese Erinnerung. Sie schuldet ihr ein Ende.

57
    Jedes Ende ist willkürlich, weil das Ende da ist, wo man Ende hinschreibt. Ein Absatz, ein Satzzeichen, ein Halt. Ein kleines, punktförmiges Loch im Papier: man könnte es sich vor die Augen halten und hindurchsehen, auf die andere Seite, auf den Beginn von  etwas anderem. Oder, wie Tony zu ihren Studenten sagt: 
     
    Die Zeit ist nicht solide wie Holz, sondern fließend wie Wasser, oder wie der Wind. Sie ist nicht säuberlich in gleich große Stücke aufgeteilt, in Jahrzehnte und Jahrhunderte. Dennoch müssen wir für unsere Zwecke so tun, als wäre sie das. Das Ende jeder Geschichte ist eine Lüge, an der mitzuwirken wir alle einhellig beschlossen haben.
     
    Ein Ende also. Der 11.November 1991, elf Uhr morgens, die elfte Stunde des elften Tages des elften Monats. Es ist ein Montag. Die Rezession wird immer schlimmer, es wird von Firmenschließungen gemunkelt, eine Hungersnot fegt über Afrika hinweg; im einstigen Jugoslawien gibt es ethnische Fehden. Gräueltaten mehren sich, Regierungen wanken, Autofirmen stehen knirschend still. Der Golfkrieg ist vorbei, der Wüstensand ist mit Bomben getüpfelt; die Ölfelder brennen immer noch, schwarze Rauchschwaden wälzen sich über die ölige See. Beide Seiten behaupten, gewonnen zu haben, beide Seiten haben verloren. Es ist ein trüber Tag, in Nebel gehüllt.
     
    Die drei stehen im Heck der Fähre, die auf ihrem Weg zur Insel durch den Hafen tuckert und die momentane Dunkelheit ihres Kielwassers hinter sich herzieht. Vom Festland können sie, ganz schwach, den Klang von Hörnern und das Geräusch gedämpfter Schüsse hören. Ein Salut. Das Wasser sieht im perlenfarbenen Licht wie Quecksilber aus, der Wind ist sanft, kühl, aber mild für die Jahreszeit, für den Monat. Der Pausenmonat, der Monat der kahlen Zweige und des angehaltenen Atems, der Nebelmonat, die graue Stille vor dem Winter.
     
    Monat der Toten, Monat der Rückkehr, denkt Charis. Sie denkt an die grauen Pflanzen, die unter dem verseuchten, arglosen Wasser am Grund des Sees wehen; an die grauen Fische mit klumpigen, chemischen Auswüchsen, die wie Schatten dahintreiben; an Neunaugen- Aale mit ihren winzigen Nadelzähnen und saugenden Mäulern, die sich zwischen den Hüllen der Autowracks und leeren Flaschen
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