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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut
Autoren: Margaret Atwood
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übernehmen, bis ihnen etwas Angemessenes einfällt, was sie damit tun können. Sie tut den Kanister mit Zenia in den Keller, in die Schachtel mit dem Christbaumschmuck, in rotes Seidenpapier eingewickelt, gleich neben die Pistole. Sie sagt West nicht, daß Zenia da unten ist, weil das Ganze eine Angelegenheit ist, die nur Frauen etwas angeht.

 
Ausgang

56
    Jetzt ist Zenia also Geschichte.
    Nein: Zenia ist jetzt fort. Sie ist fort und für immer verloren. Sie ist eine Ansammlung von Staubkörnern, die vom Winde verweht werden wie Sporen; sie ist eine unsichtbare Wolke aus Viren, ein paar Moleküle, die sich zerstreuen. Sie wird erst dann Geschichte sein, wenn Tony beschließt, sie in Geschichte umzuformen. Im Augenblick ist sie formlos, ein zerbrochenes Mosaik: ihre Bruchstücke sind in Tonys Hand, weil sie tot ist, und alle Toten sind in der Hand der Lebenden.
    Aber was soll Tony aus ihr machen? Zenias Geschichte ist wesenlos, besitzerlos, nur ein Gerücht, das von Mund zu Mund geht und sich unterwegs verändert. Wie bei jedem Zauberer sah man, was sie einen sehen lassen wollte; oder man sah, was man selbst sehen wollte. Sie arbeitete mit Spiegeln. Der Spiegel war jeder, der ihr zusah, aber hinter dem zweidimensionalen Bild war nichts als eine dünne Quecksilberschicht.
    Selbst der Name Zenia mag gar nicht existieren, wie Tony weiß, weil sie nachgeschlagen hat. Xenia, ein russisches Wort für gastfreundlich, ein griechisches, das sich auf die Auswirkungen fremder Pollen auf eine Frucht bezieht; Zenaida, »Tochter des Zeus«, und der Name zweier frühchristlicher Märtyrerinnen; Zillah, hebräisch, ein Schatten: Zenobia, die im dritten Jahrhundert lebende Kriegerkönigin von Palmyra in Syrien, die von Kaiser Aurelian besiegt wurde; Xeno, griechisch, der Fremde, wie in Xenophobie; Zenana, Hindu, Frauenquartier oder Harem, Zen, eine meditative japanische Religion,  Zendic, ein orientalischer Praktiker ketzerischer Magie – das sind die ähnlichsten Begriffe, die sie gefunden hat.
    Aus derartigen Anspielungen und Bedeutungen hat Zenia sich selbst geschaffen. Und was die Wahrheit über sie betrifft, so ist sie nicht zu fassen, weil Zenia – zumindest den Akten nach – nie geboren wurde.
    Aber warum sollte man sich in der heutigen Zeit – so würde Zenia selbst sagen – mit einer derart quichottischen Vorstellung wie Wahrheit abgeben? Jede ernsthafte Geschichtsschreibung ist zumindest zur Hälfte ein Taschenspielertrick: die rechte Hand wedelt mit ihren armseligen Tatsachenschnipseln herum, ganz offen, damit jeder kommen und sich von ihrem Wahrheitsgehalt überzeugen kann, während die linke sich tief in den versteckten Taschen mit ihren eigenen heimlichen Angelegenheiten beschäftigt. Tony ist, wie so oft, verzweifelt über die Unmöglichkeit exakter Rekonstruktion.
     
    Auch über ihre Sinnlosigkeit. Warum tut sie, was sie tut? Die Geschichte war einst ein stattliches Gebäude, mit Säulen der Weisheit und einem Altar zu Ehren der Göttin Erinnerung, der Mutter der neun Musen. Jetzt haben der saure Regen und terroristische Bomben und Termiten ihre Spuren hinterlassen – es sieht immer weniger wie ein Tempel und immer mehr wie eine Ruine aus –, aber einst hatte es eine bedeutende Struktur. Es hieß, die Geschichte könne die Menschen etwas lehren, etwas Nützliches; sie war wie ein gesundheitsspendendes Vitamin, oder wie ein Motto aus einem Glückskuchen, das irgendwo unter ihren angesammelten Berichten verborgen lag, von denen die meisten von Gier, Gewalt, Bosheit und Macht handelten, weil die Geschichte sich nicht sonderlich für die interessiert, die sich bemühen, gut zu sein. Abgesehen davon ist Gutsein sowieso problematisch, weil eine Handlung in der Absicht zwar gut, in ihren Auswirkungen aber schlecht sein kann, siehe die Missionare. (Deshalb bevorzugt Tony Schlachten: in einer Schlacht gibt es richtige Aktionen und falsche Aktionen, und man erkennt sie daran, wer gewonnen hat.)
    Trotzdem gab es angeblich einmal eine Botschaft. Laß dir das eine Lehre sein , sagten Erwachsene zu Kindern und Historiker zu ihren Lesern. Aber lehren die Geschichten der Geschichte tatsächlich etwas? In einem allgemeinen Sinn, denkt Tony, möglicherweise nicht.
    Trotz alledem stapft sie weiter, verwebt ihre begründeten Vermutungen und ihre plausiblen Annahmen immer noch miteinander, brütet immer noch über ihren Tatsachenfetzen, ihren Topfscherben und zerbrochenen Pfeilspitzen und fleckigen Glasperlen, und ordnet sie
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