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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut
Autoren: Margaret Atwood
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dahinschlängeln. Sie denkt an alles, was in den See hineingefallen ist, oder hineingeworfen wurde. Schätze und Knochen. Anfang November schmücken die Franzosen ihre Gräber mit Chrysanthemen, die Mexikaner mit Ringelblumen, schaffen auf diese Weise einen goldenen Pfad, damit die Geister ihren Weg finden können. Während wir Mohnblumen nehmen. Die Blume des Schlafs und des Vergessens. Blüten aus vergossenem Blut.
     
    Jede von ihnen trägt eine Mohnblume am Mantel. Sie sind aus schäbigem Plastik, aber wer kann da schon nein sagen, denkt Roz, obwohl die aus Stoff ihr besser gefielen. Es ist wie mit diesen gräßlichen Narzissen gegen Krebs. Wenn es so weitergeht, wird bald jede Blume mit irgendeinem Körperteil oder einer Krankheit verbunden sein. Plastiklupinen gegen Lupus, Plastikrosen gegen Rheuma, Plastikastern gegen Aids, aber man muß die verflixten Dinger kaufen, damit man nicht jedesmal, wenn man auf die Straße geht, aufs neue angehauen wird. Ich hab schon eine!  Hier!
    Es war Tony, die darauf bestand, diesen speziellen Tag zu nehmen. Gedenktag für die Gefallenen der beiden Weltkriege. Tag der blutigen Mohnblume. Tony wird von Minute zu Minute bizarrer, denkt Roz; aber das gilt schließlich für jede von ihnen.
     
    Dieser Gedenktag ist genau richtig, denkt Tony. Sie will Zenia Gerechtigkeit widerfahren lassen; aber sie denkt nicht nur an Zenia. Sie denkt an den Krieg und an alle, die durch ihn ums Leben kamen, während er vor sich ging oder später; manchmal brauchen Kriege lange, um Menschen zu töten. Sie denkt an alle Kriege. Sie sehnt sich nach irgendeiner Form von Zeremoniell, von Etikette; nicht daß die beiden anderen so verteufelt kooperativ wären. Roz trägt zwar Schwarz, wie Tony es verlangt hat, aber sie hat ihre Aufmachung mit einem rotsilbernen Schal aufgemotzt. Schwarz betont meine Tränensäcke, hat sie gesagt. Ich mußte was anderes um mein Gesicht herum haben. Paßt zu meinem Lippenstift – das ist Rubikon, frisch von der Presse. Was sagst du dazu? Es macht dir doch nichts aus, oder, Herzchen?
    Und was Charis angeht... Tony wirft einen schnellen Seitenblick auf das Gefäß, das Charis in der Fland hält: nicht die billige Kupferurne mit den pseudogriechischen Griffen, die das Krematorium ihnen verhökert hat und die wie ein Mixbecher aussah, sondern etwas noch Gräßlicheres. Eine handgetöpferte Keramikvase, fürchterlich artistisch, in ineinanderfließenden Mauve- und Brauntönen, ein Geschenk von Shanita an Charis, aus dem Lagerraum des Pfennigfuchsers , wo sie jahrelang Staub angesammelt hatte. Charis bestand darauf, etwas Bedeutsameres zu nehmen als die Blechbüchse, die Tony in ihrem Keller aufbewahrt hatte, und bevor sie die Fahrkarten für die Fähre lösten, füllten sie Zenia im Second-Cup-Café in die Vase um. Roz übernahm das Umfüllen; die Asche war klebriger, als Tony erwartet hatte. Charis konnte nicht hingucken, falls man die Zähne sehen würde. Aber inzwischen hat sie sich wieder gefaßt; sie steht an der Reling, die blassen Haare auseinandergeweht, sieht aus wie eine verkehrt herum angebrachte Galeonsfigur und hütet die gräßliche Blumenvase mit Zenias leiblichen Überresten. Falls die Toten zurückkommen, um Rache zu üben, denkt Tony, wäre diese Blumenvase ein ausreichender Anlaß.
     
    »Was meint ihr? Ob wir jetzt ungefähr auf der Hälfte sind?« fragt Tony. Sie will, daß sie sich über dem tiefsten Teil befinden.
    »Sieht meiner Meinung nach ganz in Ordnung aus, Süße«, sagt Roz. Sie will diese Geschichte so schnell wie möglich hinter sich bringen. Wenn sie auf der Insel sind, werden sie alle zu Charis gehen, um Tee zu trinken und, wie Roz bangt und hofft, etwas zu essen: ein Stück selbstgebackenes Brot, einen Vollkornkeks, egal was. Was immer es ist, es wird wie Stroh schmecken – es wird diesen trübsinnig gesunden, lippenstiftlosen Vollkorngeschmack haben, der allem anhaftet, was Charis kocht –, aber wenigstens wird es etwas Eßbares sein. Sie hat drei Mozartkugeln in ihrer Tasche versteckt, als eine Art Anti-Vitamin-Ergänzung und Notration für den Fall des Verhungerns. Eigentlich hatte sie Champagner mitbringen wollen, es dann aber doch vergessen.
    Das Ganze wird eine Art Totenwache sein. Sie werden an Charis’ rundem Tisch sitzen, Gebäck knabbern und die Siebenkorn-Krümel auf Charis’ Boden vermehren, weil der Tod eine Art Hunger ist, eine Leere, die man füllen muß. Roz hat die Absicht zu reden: das wird ihr Beitrag sein. Tony hat
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