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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut
Autoren: Margaret Atwood
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Wissens.
    Sie interessieren sich auch für die Nadel, die auf dem Balkon gefunden wurde, und für die Tatsache, daß Zenia an einer Überdosis starb, bevor sie im Springbrunnen aufschlug. War es denkbar, daß sie das Zeug ausprobierte, ohne zu wissen, wie ungewöhnlich rein der Stoff war, den sie kaufte oder verkaufte? Sie hatte Einstichstellen am linken Arm, die aber schon älter aussahen. Den manteltragenden Männern zufolge hatte es in letzter Zeit mehrere tödliche Überdosen dieser Art gegeben, so als würde jemand den Markt mit Hochoktanstoff überschwemmen, auf den selbst erfahrene Junkies nicht vorbereitet waren.
    Es waren keine Fingerabdrücke auf der Nadel, außer denen von Zenia. Und was ihren Hechtsprung in den Springbrunnen anging, so könnte sie gefallen sein. Sie war eine große Frau, die Balkonbrüstung war zu niedrig, um wirklich sicher zu sein; der Standard sollte verbessert werden. So etwas wäre vorstellbar. Wenn sie sich über das Geländer gebeugt hätte. Es könnte auch Mord gewesen sein.
    Oder es könnte Selbstmord gewesen sein, sagt Tony zu ihnen. Sie möchte gerne, daß sie das glauben. Es wäre möglich, sagt sie ihnen, daß Zenia nicht gesund war. Natürlich, sagen die Männer in den Mänteln höflich. Das wissen wir. Wir haben die Rezepte in ihrem Koffer gefunden, wir haben den Arzt gefunden. Anscheinend hatte sie außer den gefälschten Pässen auch eine gefälschte Gesundheitskarte, aber die Krankheit selbst war echt genug. Noch sechs Monate zu leben: Eierstockkrebs. Aber es wurde kein Abschiedsbrief gefunden.
    Tony sagt, daß das nicht weiter verwunderlich ist: Zenia gehörte nicht zu der Sorte, die Abschiedsbriefe schreiben. Die Männer in den Mänteln sehen sie an, ihre kleinen Augen glitzern skeptisch. Sie kaufen keine dieser Theorien, aber sie haben keine andere, keine, die wasserdicht wäre.
    Tony weiß, wie es ausgehen wird: Zenia wird sich als zu schlau für die Männer in den Mänteln erweisen; sie wird sie austricksen, so wie sie immer alle ausgetrickst hat. Sie merkt, daß sie sich darüber freut, als würde ihr Glaube an Zenia – ein Glaube, von dem sie nicht wußte, daß sie ihn hatte – gerechtfertigt. Sollten sie doch schwitzen! Warum sollten alle immer alles wissen? Und es ist schließlich nicht so, als gäbe es keine Präzedenzfälle: die Geschichte wimmelt nur so von Leuten, die unter ungeklärten Umständen starben.
    Trotzdem fühlt sie sich bei ihrer Ehre dazu verpflichtet, den Männern von der Unterhaltung über Gerry Bull und das Projekt Babylon zu erzählen, obwohl es nicht nur die Ehre ist, die sie dazu veranlaßt: sie hofft sehr, daß Zenia, wenn sie tatsächlich ermordet wurde, von Profis ermordet wurde, und nicht von jemandem, den sie kennt. Die Männer sagen, daß sie Zenias Schritte zurückverfolgen, so gut sie können, mit Hilfe ihrer Flugtickets; in der letzten Zeit ist sie in der Tat an ein paar sehr seltsamen Orten gewesen. Aber es gibt nichts, was wirklichen Aufschluß liefern würde. Sie schütteln Tony die Hand und verabschieden sich und sagen, daß sie anrufen soll, falls sie noch etwas hört. Sie sagt, daß sie das tun wird.
    Sie sieht sich mit der unwahrscheinlichen Möglichkeit konfrontiert, daß alle drei Geschichten Zenias – oder wenigstens Teile davon -  wahr sein könnten. Was, wenn Zenias Hilferufe dieses Mal wirklich Hilferufe waren?
     
    Als die Polizei mit allem durch ist, folgt die Einäscherung. Roz übernimmt die Kosten, denn als sie den Anwalt aufgespürt hat, den, der Zenias letzte Beerdigung arrangierte, ist er ziemlich verärgert. Er empfindet es als persönliche Beleidigung, daß Zenia beschlossen hatte, die ganze Zeit über lebendig zu sein, ohne ihn um Rat zu fragen. Ihr Testament wurde schon damals vollstreckt, nicht daß es etwas zu vollstrecken gegeben hätte, weil sie nämlich nichts hinterließ, nur ein kleines Legat an ein Waisenhaus in St. Catherines, das, wie sich herausstellte, nicht mehr existierte, und außerdem wurde er selbst nie bezahlt. Was also erwarten sie von ihm?
    »Nichts«, sagt Roz. »Es wird alles erledigt werden.«
    »Und was jetzt?« sagt sie zu Tony und Charis. »Sieht so aus, als hätte man uns den Schwarzen Peter zugeschoben. Sie scheint keine Verwandten zu haben.«
    »Außer uns«, sagt Charis.
    Tony hält es für zwecklos, ihr zu widersprechen, weil Charis der Überzeugung ist, daß jeder durch irgendeine Art von unsichtbarem Wurzelsystem mit jedem verwandt ist. Sie sagt, sie wird die Asche
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