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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin
Autoren: Günter Grass
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den Schiffer Johann Heinrich Jungclaus verkauft, der den Ewer ohne Schaden über den Ersten Weltkrieg brachte und ihm im Jahr vierundzwanzig, zur Zeit der Rentenmark, einen 18-PS-Glühkopfmotor einbauen ließ. Krautsand und nicht mehr Wewelsfleth stand nun als Heimathafen am Heck geschrieben: mit weißen Buchstaben auf schwarzem Anstrich. Das änderte sich, als Jungclaus seinen Lastewer dem Schiffer Paul Zenz aus Cammin an der Dievenow verkaufte, einer Kleinstadt in Pommern, die heute Kamién heißt.
Dort fiel die »Dora« auf. Abfällig nannten die pommerschen Küstenschiffer das Plattbodenschiff, wenn es durch den Greifswalder Bodden geschippert wurde, einen Dwarsdriewer. Noch immer Getreidelasten, Winterkohl, Schlachtvieh als Last, aber auch Bauholz, Ziegelsteine, Dachpfannen, Zement; es wurde ja bis in den Zweiten Weltkrieg hinein viel gebaut: Kasernen, Barackenlager. Doch hieß der Eigner der »Dora« jetzt Otto Stöhwase, und am Heck stand Wollin als Heimathafen geschrieben; so heißt eine Stadt und Insel, die mit der Insel Usedom vor der pommerschen Küste liegt. Als vom Januar bis zum Mai des Jahres fünfundvierzig große und kleine Schiffe, mit Zivilisten und Soldaten überladen, die Ostsee befuhren, doch nicht alle Schiffe die Häfen der Städte Lübeck, Kiel, Kopenhagen, den rettenden Westen erreichten, holte auch die »Dora«, kurz bevor die zweite sowjetische Armee zur Ostsee durchstieß, Flüchtlinge aus Danzig-Westpreußen, um sie nach Stralsund zu bringen. Das war, als die »Gustloff« sank. Das war, als in der Neustädter Bucht die »Cap Arcona« ausbrannte. Das war, als überall und selbst an Schwedens neutraler Küste ungezählt viele Leichen antrieben; alle noch Lebenden glaubten, davongekommen zu sein, und nannten deshalb das Ende, als sei zuvor nichts geschehn, die Stunde Null.
Ein Jahrzehnt später wurde, während überall Frieden bewaffnet herrschte, der immer noch unverändert lange und breite Ewer mit einem 36-PS-Brons-Dieselmotor ausgerüstet und vom neuen Eigner, der Firma Koldewitz auf Rügen, nicht mehr »Dora« sondern »Ilsebill« genannt; wohl in Anspielung auf ein plattdeutsches Märchen, dessen Wortlaut aufgezeichnet worden war, als überall in Deutschland, also auch auf der Insel Rügen, Märchen gesammelt wurden.
Benannt nach des Fischers Frau, die sich vom sprechenden Butt mehr, immer mehr, am Ende wie Gott zu sein wünscht, diente die »Ilsebill« noch lange als Lastschiff im Bodden, in der Peenemündung und im Achterwasser, bis man sie gegen Ende der sechziger Jahre, während immer noch Frieden bewaffnet herrschte, abwracken und im Hafen von Warthe auf Usedom als Molenfundament versenken wollte. Der stählerne Rumpf, dessen Heck zuletzt die Stadt Wolgast als Heimathafen ausgab, sollte geflutet werden.
Das geschah nicht, denn im reichen Westen, dem der verlorene Krieg Glück gebracht hatte, fand sich eine Käuferin, die von Greifswald herkam, über Umwege nach Lübeck gezogen war, doch weiter auf vorpommerschen Trödel fixiert blieb, der mochte von Rügen, von Usedom stammen oder, wie der stählerne Besanewer mit Holzboden, nach dorthin verschlagen sein; eigentlich hatte sie eines der selten gewordenen Zeesboote gesucht.
Am Ende langwieriger Verhandlungen bekam die Käuferin, die, ihrem Herkommen gemäß, beharrlich blieb, den Zuschlag, weil die Deutsche Demokratische Republik, als letzter Schiffseigner, nach hartem Westgeld begehrlich war; die Überführung des Lastewers kam teurer als dessen Kauf. Lange lag die »Dora« als »Ilsebill« in Travemünde. Schwarz der Rumpf und der Hauptmast, blau-weiß das Steuerhaus und die restlichen Aufbauten. An langen Wochenenden und während Urlaubswochen putzte, besserte, pinselte die neue Eignerin, die ich, weil sie mir lieb ist, Damroka nennen will, an ihrem Schiff, bis sie, obgleich von Beruf Organistin und von Jugend an mit Händen und Füßen für Gott und Bach tätig, Ende der siebziger Jahre zum Bootsführerschein ihr Patent für Küstenfahrt machte. Sie ließ die Orgel samt Kirche und Pfaffen hinter sich, entzog sich der musikalischen Fron und soll fortan die Kapitänin Damroka genannt werden, auch wenn sie ihr Schiff mehr bewohnte als ausfuhr, nachdenklich auf Deck rumstand, wie verwachsen mit ihrem stets halbvollen Kaffeepott.
Erst Anfang der achtziger Jahre faßte Damroka einen Plan, der, nach Probefahrten in der Lübecker Bucht und nach Dänemark rüber, ab Ende Mai dieses Jahres, das nach chinesischem Kalender das Jahr der
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