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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin
Autoren: Günter Grass
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Menschen: immer höher hinaus, immer steiler erdacht... Seht, wie zerknautscht sein Fortschritt zu Fall kam! Und ich sah, was mir träumte, sah Gelee bibbern und Filmbänder unterwegs, sah rollenden Schrott und Folien von Stürmen bewegt, sah Gift aus Fässern suppen; und ich sah sie, die vom Müllberg herab verkündete, daß der Mensch nicht mehr sei. Das, rief sie, ist euer Nachlaß!
Nein, Rättin, nein! schrie ich. Noch gibt es uns tätig. Zukünftig sind Termine gesetzt, vom Finanzamt, beim Zahnarzt zum Beispiel. Es sind die Ferienflüge vorausgebucht. Morgen ist Mittwoch und übermorgen ... Auch steht mir ein bucklicht Männlein im Weg, das sagt: Es müsse dies noch und das niedergeschrieben werden, damit unser Ende, sollte es kommen, vorbedacht sich ereigne.
    Meine See, die sich nach Osten
und nördlich verläuft, wo Haparanda liegt.
Die baltische Pfütze.
Was von der windigen Insel Gotland außerdem ausging. Wie die Algen dem Hering die Luft nahmen
und der Makrele, dem Hornfisch auch.
    Es könnte, was ich erzählen will,
weil ich durch Wörter das Ende aufschieben möchte, mit Quallen beginnen, die mehr, immer mehr, unabsehbar mehr werden,
bis die See, meine See
eine einzige Qualle.
    Oder ich lasse die Bilderbuchhelden,
den russischen Admiral, den Schweden, Dönitz, wen noch aufkreuzen, bis Strandgut
genug bleibt Planken und Bordbücher,
aufgelistet Proviant -
und alle Untergänge abgefeiert sind.
    Als am Palmsonntag aber Feuer vom Himmel auf die Stadt Lübeck und ihre Kirchen fiel, brannte vom Backsteingemäuer die innere Tünche; hoch ins Gerüst soll nun Malskat, der Maler, abermals steigen, damit uns die Gotik nicht ausgeht.
    Oder es spricht, weil ich nicht lassen kann von der Schönheit, die Organistin aus Greifswald mit ihrem R, das zum Uferkiesel gerollt wurde. Sie hat, genau gezählt,
elf Pfaffen überlebt und immer
den Cantus firmus gehalten.
    Jetzt heißt sie, wie Witzlavs Tochter hieß. Jetzt sagt Damroka nicht,
was der Butt ihr gesagt.
Jetzt lacht sie von der Orgelbank
ihren elf Pfaffen nach: der erste, son Mucker, der kam aus Sachsen...
    Ich lade euch ein: denn hundertundsieben Jahre wird Anna Koljaiczek aus Bissau bei Viereck, das liegt bei Matarnia.
Ihren Geburtstag zu feiern mit Sülze, Pilzen und Kuchen kommen alle gereist, denn weit
zweigt das kaschubische Kraut.
    Die aus Übersee: von Chicago her reisen sie an. Die Australier nehmen den längsten Weg. Wem es im Westen besser geht, der kommt, es jenen zu zeigen,
die in Ramkau, Kartuzy, Kokoschken geblieben, um wieviel besser in deutscher Mark.
    Fünf von der Leninwerft sind eine Delegation. Schwarzröcke bringen den Segen der Kirche. Nicht nur die staatliche Post,
Polen als Staat ist vertreten. Mit Chauffeur und Geschenken kommt unser Herr Matzerath auch.
    Aber das Ende! Wann kommt das Ende? Vineta! Wo liegt Vineta?
Seetüchtig kreuzen sie auf; denn zwischendurch werden Frauen tätig.
Allenfalls Flaschenpost,
die ihren Kurs ahnen läßt.
    Da ist keine Hoffnung mehr.
Denn mit den Wäldern,
soll hier geschrieben stehen,
sterben die Märchen aus.
Abgeschnitten Krawatten kurz unterm Knoten. Endlich, das Nichts hinter sich, treten die Männer zurück.
    Doch als die See den Frauen Vineta zeigte, war es zu spät. Damroka verging
und Anna Koljaiczek sagte: Nu isses aus. Ach, was soll werden, wenn nichts mehr wird! Da träumte die Rättin mir und ich schrieb: Die Neue Ilsebill geht als Ratte an Land.
    Als im Oktober neunundneunzig die »Dora«, ein stählerner Ewer mit Holzboden, dem Schiffsbauer Gustav Junge in Auftrag gegeben und im März des Jahres 1900 auf der Wewelsflether Werft zu Wasser gelassen wurde, ahnte der Schiffseigner Richard Nickels nicht, was alles seinem für die Hamburger Graskellerschleuse bemessenen Alsterewer geschehen sollte, zumal das neue Jahrhundert, laut angekündigt und klotzig, mit prallen Taschen ans Licht trat, als wollte es sich die Welt kaufen.
Knappe achtzehn Meter war das Schiff lang und viersiebzig breit. Die Tonnage der »Dora« belief sich auf achtunddreißigkommafünf Bruttoregistertonnen, ihre Tragfähigkeit betrug siebzig Tonnen, war aber mit fünfundsechzig angegeben. Ein Lastschiff, für Getreide und Schlachtvieh, für Bauholz und Ziegelsteine gut.
Der Schiffer Nickels war nicht nur auf der Elbe, der Stör und der Oste mit Fracht unterwegs, sondern befuhr auch deutsche und dänische Häfen bis nach Jütland hoch und nach Pommern hin. Bei gutem Wind lief sein Lastewer vier Knoten.
1912 wurde die »Dora« an
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