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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin
Autoren: Günter Grass
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Rattenvölkchen ausgewachsen habe; so geräumig sei des allmächtigen Gottes Hand. Verstockt schwieg Noah nach dieser Rede und dachte, wie von Jugend an gewohnt, Böses bei sich. Doch als die Arche breit und platt auf dem Gebirge Ararat Grund gefunden hatte, war das wüste Gelände ringsum schon eingenommen von uns; denn nicht in Gottes Hand, wohl aber in unterirdischen Gängen, die wir mit Alttieren gepfropft und in Nistkammern zu rettenden Luftblasen gemacht hatten, waren wir, das zählebige Rattengeschlecht, der Sintflut entkommen. Wir, langschwänzig! Wir, mit dem ahnenden Witterhaar! Wir, mit dem nachwachsenden Zahn! Wir, des Menschen enggefügte Fußnoten, sein auswuchernder Kommentar. Wir, unverwüstlich!
Bald bewohnten wir Noahs Kasten. Keine Vorkehr half: seine Speise war unsere auch. Schneller, als sich die Menschen um Noah und sein erwähltes Getier vermehren konnten, wurden wir zahlreich. Uns wurde das Menschengeschlecht nicht mehr los.
Da sagte Noah, indem er Demut vor seinem Gott heuchelte und sich gleichwohl an dessen Stelle setzte: Verstockt war mein Hertz, daß ich des Herrn Wort außer acht ließ. Doch nach des Allmächtigen Wille überlebte auff erden mit uns die ratt. Sie soll verflucht seyn, in unserem Schatten zu wühlen, wo abfall liegt.
Das ging in Erfüllung, sagte die Rättin, von der mir träumt. Wo der Mensch war, an jedem Ort, den er verließ, blieb Müll. Selbst auf der Suche nach letzter Wahrheit und seinem Gott auf den Fersen, machte er Müll. An seinem Müll, der Schicht auf Schicht lagerte, war er, sobald man ihm nachgrub, jederzeit zu erkennen; denn langlebiger als der Mensch ist sein Abfall. Einzig Müll hat ihn überdauert!
Wie nackt ihr Schwanz mal so und mal so liegt. Ach, wie hat sie sich ausgewachsen, meine niedliche Weihnachtsratte. Unruhig auf und ab, dann wieder starr, bis auf die zitternden Witterhaare, hält sie alle Träume besetzt. Mal plappert sie leichthin, als müsse auf Rattenwelsch, in dem viel Tratsch zischelt, die Welt samt Kleinkram verplaudert werden, dann wieder fistelt sie belehrend, indem sie mich in die Schule nimmt, mir rattig geschichtsläufige Lektionen erteilt; schließlich spricht sie endgültig, als habe sie Luthers Bibel, die Großen und Kleinen Propheten, die Sprüche Salomonis, Jeremiä Klagelieder, wie nebenbei die Apokryphen, den Singsang der Männer im Feuerofen, die Psalmen alle und Siegel nach Siegel des Johannes Offenbarung gefressen.
Wahrlich, ihr seid nicht mehr! höre ich sie verkünden. Wie einst der tote Christus vom Weltgebäude herab, spricht weithallend die Rättin vom Müllgebirge: Nichts spräche von euch, gäbe es uns nicht. Was vom Menschengeschlecht geblieben, zählen wir zum Gedächtnis auf. Vom Müll befallen, breiten sich Ebenen, strändelang Müll, Täler, in denen der Müll sich staut. Synthetische Masse wandert in Flocken, Tuben, die ihren Ketchup vergaßen, verrotten nicht. Schuhe, weder aus Leder noch Stroh, laufen selbsttätig mit dem Sand, sammeln sich in vermüllten Kuhlen, wo schon des Seglers Handschuh und drolliges Badegetier warten. All das redet von euch ohne Unterlaß. Ihr und eure Geschichten in Klarsichtfolie verschweißt, in Frischhaltebeuteln versiegelt, in Kunstharz gegossen, in Chips und Klips ihr: das gewesene Menschengeschlecht.
Was sonst noch geblieben ist: auf euren Pisten rollt, scheppert Schrott. Kein Papier uns zum Fraß, doch zerschlissene Planen um Pfeiler, um Stahlträger gewickelt. Geronnener Schaum. Als sei in ihm Leben, bibbert in Fladen Gelee. Überall rotten Horden leerer Kanister. Aus Kassetten befreit sind Filmbänder unterwegs: Die Caine war ihr Schicksal, Doktor Schiwago, Donald Duck, High Noon und Goldrausch... Was euch vergnüglich oder zu Tränen rührend in beweglichen Bildern das Leben gewesen ist.
Ach, eure Autohalden, in denen sich wohnen ließ früher. Container und sonstige Stapelware. Kisten, die ihr Safe und Tresor nanntet, stehen sperroffen: jedes Geheimnis ausgekotzt. Alles wissen wir, alles! Und was ihr in suppenden Fässern gelagert, vergessen oder falsch abgebucht habt, wir finden sie, eure tausend mal tausend Giftdeponien: Plätze, die wir begrenzen, indem wir warnend uns warnend, denn nur noch wir sind Duftmarken setzen.
Zugegeben: selbst euer Müll ist beachtlich! Und oft staunt unsereins, wenn Stürme mit dem strahlenden Staub sperrige Bauelemente von weither über die Hügel ins flache Land tragen. Seht, es segelt ein Glasfiberdach! So erinnern wir den verstiegenen
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