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Die Rache des schönen Geschlechts

Titel: Die Rache des schönen Geschlechts
Autoren: Andrea Camilleri
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fuhr los. Er merkte gar nicht, dass er Slalom fuhr, zum Glück waren kaum Autos unterwegs. Die erste Apotheke war immer noch geschlossen, und die Farmacia Centrale hatte keinen Nachtdienst, aber auf einem Schildchen neben dem Rollladen stand, man möge sich an die Apotheke Lopresti am Bahnhof wenden. Fluchend setzte er sich wieder ins Auto. Die Apotheke befand sich innerhalb des Bahnhofsgebäudes. Der Rollladen mit dem vergitterten Fenster war heruntergelassen, aber drinnen war Licht. Montalbano sagte dem verschlafenen Apotheker, er brauche ein Fieberthermometer. Nach ein paar Minuten kam der Apotheker zurück. »Sind aus«, sagte er und knallte das Türchen zu. Montalbano hatte einen Kloß im Hals und war dem Weinen nahe. Es war zum Verzweifeln: Wenn er sein Fieber nicht maß, wurde es bestimmt chronisch. Da sah er plötzlich Lampiuni, der, einen Sack über der Schulter, auf den Fahrkartenschalter zusteuerte. Dem Commissario war sofort klar, dass der Tippelbruder vorhatte, wegzufahren, zu flüchten: Er wollte der Feier entgehen, die der Bürgermeister angesetzt hatte, denn sie würde unweigerlich zu seiner Identifizierung führen, der er sich bisher, wer weiß wie lange schon, entzogen hatte.
    »Herr Doktor!«, schrie er und wusste selbst nicht, warum er den Vagabunden so nannte, von tief innen war das gekommen, es war sein Jagdinstinkt, mit dem er geboren war.
    Lampiuni blieb wie vom Donner gerührt stehen und wandte sich ganz langsam um, während Montalbano auf ihn zuging. Als er ihm gegenüberstand, begriff der Commissario, dass der alte Mann starr war vor Schreck. »Haben Sie keine Angst«, sagte er.
    »Ich weiß, wer Sie sind«, sagte Lampiuni. »Sie sind ein Kommissar. Und Sie haben mich erkannt. Haben Sie Erbarmen mit mir, ich habe für meinen Fehler bezahlt und zahle immer noch dafür. Ich war ein angesehener Arzt, und jetzt bin ich nur noch ein Wrack. Aber ich könnte trotzdem die Schande nicht ertragen, es wäre schrecklich, wenn diese Geschichte wieder ausgegraben würde. Haben Sie Erbarmen, lassen Sie mich gehen.«
    Dicke Tränen fielen auf seine abgerissene Jacke. »Keine Angst, Dottore«, sagte Montalbano. »Ich habe keinen Grund, Sie aufzuhalten. Aber ich muss Sie noch um einen Gefallen bitten.«
    »Mich?«, fragte der Stadtstreicher erstaunt. »Ja, Sie. Können Sie mir sagen, wie hoch mein Fieber ist?«
Tödlich verwundet
    Kapitel 1
    Das leichte Abendessen war gewiss nicht schuld daran, dass er sich die halbe Nacht um die Ohren schlug und sich im Bett wälzte, bis er sich fast mit dem Laken strangulierte. Nein, wahrscheinlich lag es an dem Buch, das er ins Bett mitgenommen hatte, an seinem Unmut über so manche fade und blasse Seite eines Romans, den die Kritiker als einen der höchsten Gipfel bejubelten, den die Weltliteratur in den letzten fünfzig Jahren erklommen hatte. Die Entdeckung solcher Gipfel erfolgte durchschnittlich alle sechs Monate, und den Schrei des Entzückens pflegte eine reichlich snobistische Zeitung auszustoßen, an die sich die anderen flugs dranhängten. Alles in allem ähnelte das Panorama der Weltliteratur der vergangenen fünfzig Jahre ziemlich dem Himalaja, von einem Satelliten aus fotografiert. Aber in Wirklichkeit, überlegte er, war das Buch gar nicht schuld. Er hätte es, als er genug davon hatte, ja einfach zuklappen, auf den Boden werfen und das Licht löschen können und damit Schluss. Aber bei ihm stimmte halt alles Mögliche nicht, und so hatte er die Eigenart, dass er, wenn er einmal angefangen hatte, irgendwas zu lesen - Artikel, Essay, Roman -, unmöglich mittendrin aufhören konnte, er musste es zu Ende bringen. Das Klingeln des Telefons wirkte richtig befreiend. Er pfefferte das Buch an die Wand gegenüber und sah auf den Wecker. Drei Uhr morgens.
    »Pronto?«
    »Pronti?«
    »Catare!« »Dottori!«
    »Was gibt's?«
    »Schüsse.«
    »Auf wen?«
    »Auf jemand.«
    »Tot?«
    »Tot.«
    Glänzender Dialog ganz nach Art des Dichters Alfieri.
    »Den verstorbenen Signore, der Gerlando Piccolo heißt, haben sie bei ihm zu Hause erschossen«, fuhr Catarella prosaisch fort.
    »Gib mir die Adresse.«
    »Das ist schwer zu finden, Dottori. Kommen Sie her, Gallo wartet hier auf Sie, weil der kennt den Weg.«
    »Hast du Dottor Augello Bescheid gesagt?«
    »Ich hab's versucht, aber der ist nicht da.«
    »Und Fazio?«
    »Der ist schon am Tatort.«
    »Ist gut, ich bin gleich da.«
    Es herrschte eine solche Dunkelheit, dass man sie mit dem Messer hätte schneiden können. Soweit
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