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Die Rache der Engel

Die Rache der Engel

Titel: Die Rache der Engel
Autoren: Javier Sierra
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unsichtbare Kraft, die aus der Erde strömt und die man zwar wie den Glauben spürt, aber nicht beweisen kann. Ich habe gesehen, wie Sie mit dem wissenschaftlichen Ausschuss der Stiftung diskutiert haben und wie Sie bei diesen ergebnislosen Streitereien alles gegeben haben. Dabei habe ich mich immer gefragt, wann wohl der Moment gekommen sein würde, in dem ich Ihnen erzählen kann, was ich weiß. Wann ich Ihnen dabei helfen kann, diesen Experten, die sich nur für Gewichte, Abmessungen und handwerkliche Fragen interessieren, zu beweisen, wie sehr sie sich täuschen, wenn sie Ihre Überlegungen nicht berücksichtigen… Also…«, seufzte er, » nun halte ich den Zeitpunkt für gekommen.«
    Pater Benignos Schritte wirkten schleppend. Die Kathedrale hatte sich zwar inzwischen geleert, doch nun überprüfte der private Sicherheitsdienst, den das Domkapitel verpflichtet hatte, in der festgelegten Reihenfolge alle Kapellen und Schlupfwinkel, in der Hoffnung, noch vor neun Uhr abends die volumetrische Alarmanlage einschalten zu können.
    » Sehen Sie dieses wunderbare Werk?«, fragte er mit einer Handbewegung zum Pórtico de la Gloria. » Eigentlich sollte es das hier gar nicht geben, Julia.«
    » Aber Padre…«
    » Nein, nein. Das sollte es wirklich nicht«, bekräftigte der Geistliche. » Wie Sie wissen, hat Meister Mateo den Pórtico 1188 fertig gestellt, und zwar im Auftrag des habgierigen Domkapitels, das nur darauf aus war, immer mehr Pilger nach Santiago zu locken. Es war von der Begierde angetrieben, das Bistum zu bereichern, selbst wenn damit der wesentliche Sinn des Jakobsweges pervertiert wurde. Damals herrschte in dieser Stadt eine große Spannung, Julia, und eine Gruppe von Geistlichen, die mit einer derartigen Popularisierung nicht einverstanden war, beschloss die wahrhafte Bedeutung dieser Stätte zu beschützen. Ach, Julia, es ist schon erstaunlich, wie viel diese ursprüngliche Bedeutung mit den Ereignissen zu tun hat, die Sie gerade erlebt haben. Ich werde es Ihnen erklären.«
    » Der Jakobsweg, Padre Benigno? Meinen Sie wirklich, der Pilgerweg hat etwas mit dem zu tun, was ich Ihnen erzählt habe?«
    » Ja, das hat er.«
    » Ich bin ganz Ohr.«
    » Bis zu den Anfängen des 12 . Jahrhunderts war vielen Pilgern bewusst, dass der Jakobsweg ein umfassendes und präzises Sinnbild des Lebens darstellt. In der Tat ist dieser Pilgerweg nach wie vor die beste Metapher, die die menschliche Erfindungsgabe je ersonnen hat. Diese Gläubigen hatten zu Beginn der Strecke die bewaldeten französischen Pyrenäen vor Augen, mit ihrer Vegetation und dem Wasser– ein perfektes Abbild der Kindheit. Im Verlauf der nächsten Tagesetappen reiften die Menschen, indem sie in ebenere Gegenden gelangten, und zwar in die fruchtbaren Gebiete von La Rioja oder Aragonien, die einen an die Jugend und die Fülle erinnerten. Doch sobald sie kastilischen Boden betraten, wurde alle Anstrengung zu Staub. Die Trockenheit und die Kargheit des Jakobsweges in den Gebieten von Burgos oder León verkörperten perfekt das Alter und den Tod, so dass die Pilger eine unbezahlbare Lektion über die Flüchtigkeit des Lebens erhielten. Aber, Julia, sie alle wussten, dass, sobald sie León erreicht hatten, noch eine Strecke vor ihnen lag. Die Strecke des Paradieses. Dann ließen sie begeistert O Cebreiro hinter sich und betraten das fruchtbare Galicien mit all seinen Wäldern und Bächen. Erstaunt gingen sie den Weg weiter bis nach Santiago, und hier, nach fast achthundert Kilometern Fußweg, genau an der Stelle, an der wir gerade stehen, ereignete sich das große Wunder.«
    Bei diesen Worten verspürte ich einen leichten Schauder.
    » Hier, liebe Julia, genau an dieser Stelle«, sagte er und stampfte mit den Hacken auf den Boden. » Nur, bevor es diesen Pórtico gab, den Sie und ich gerade bewundern, existierte ein anderer Eingang, den die Köpfe entworfen hatten, die auch den Jakobsweg ersannen. Und dieses Portal wurde später durch den Pórtico von Meister Mateo ersetzt. Wie Sie sich denken können, fanden die Pilger hier kein Skulpturensemble vor, das an die Apokalypse oder an die Ankunft des himmlischen Jerusalem erinnerte. Nein. Hier stand ein Portal, das an eine symbolische Episode erinnerte, die weitaus mehr Transzendenz hatte: die Verklärung des Herrn am Berg Tabor. Dieses nicht mehr existente Portal war sozusagen ein steinernes Abbild dieses außergewöhnlichen Moments, in dem Jesus seine körperliche Hülle aus Fleisch und Blut hinter sich
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