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Die Prophetin

Die Prophetin

Titel: Die Prophetin
Autoren: wood
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Versuch, sie zu einem Drink im nahe gelegenen Hotel Isis einzuladen. Der schäbige Betonklotz stammte noch aus den fünfziger Jahren und war ein Treffpunkt für Ausländer, die hier arbeiteten oder wohnten, und Touristen aus dem Nahen Osten, die nicht so viel Geld hatten wie die Gäste der Luxushotels. Auch Catherine erholte sich nach der Tagesarbeit hin und wieder mit einigen ihrer Leute in der verräucherten Bar des Hotels, aber sie ging Hungerford immer aus dem Weg. Sein aufdringliches Lachen gefiel ihr nicht, und der dicke Bauch über der riesigen Sil-berschnalle seines breiten Ledergürtels wurde auch nicht dadurch anziehender, daß er ihn ständig stolz mit beiden Händen umfaßte, als sei der Bauch etwas Besonderes, das nur er zu bieten habe. Der Texaner ließ sich jedoch keine Gelegenheit entgehen, sie in ein Gespräch über die Ausgrabung zu verwickeln. Er stellte ihr Fragen, wie: ›Sie suchen also nach den Tafeln mit den Zehn Geboten?‹ Catherine gab ihm jedesmal ausweichende Antworten und hütete sich davor, ihm den wahren Grund für ihre Grabung anzuvertrauen.
    Aus Vorsicht hatte sie sogar den Behörden in Kairo nur gesagt, was alle wußten: ›Wir suchen nach Moses.‹
    Sie konnte sich die Reaktionen gut vorstellen, wenn man die Wahrheit erfahren würde, daß sie nämlich nicht nach Moses, sondern nach seiner Schwester suchte, nach der Prophetin Mirjam.
    »Also«, sagte Hungerford jetzt grinsend und deutete mit einem vom Nikotin verfärbten Finger auf das Fragment. »Glauben Sie, das hat etwas mit Ihrer Arbeit hier zu tun?« Catherine hatte zweifellos das brüchige Stück einer Schriftrolle aus dem Altertum gefunden. Unwillkürlich betastete sie vorsichtig das bräunlichgelbe Blatt. Sie spürte die rauhe Oberfläche an der Fingerspitze und blickte ehrfurchtsvoll auf die mit großer Sorgfalt geschriebenen Buchstaben.
    Hatte das überraschend aufgetauchte Dokument etwas mit ihrer Suche nach der Prophetin Mirjam zu tun?
    Als sie nachdenklich den Kopf hob, traf der scharfe Wind ihr Gesicht. Sie atmete tief die zeitlose, salzige Luft des Golfs ein und rümpfte über die Gerüche des Fortschritts – Dieselabgase und der Rauch einer nicht allzuweit entfernten, brennenden Müllhalde – die Nase.
    Wonach mochte die Luft gerochen haben, als die Israeliten vor mehr als dreitausend Jahren hier entlangge-zogen waren? Wie war das Leben unter diesem Himmel gewesen, als sich Schleier und Umhänge der Israeliten im Wind blähten, und Mirjam die Kühnheit besaß, ihrem Bruder, dem Anführer der Juden, die Stirn zu bieten und ihn zu fragen: ›Hat der Herr nur durch Moses gesprochen?‹
    Catherine zwang sich, in die Gegenwart zurückzukehren. Da sie Hungerfords Blick noch immer auf sich gerichtet sah, senkte sie schnell den Kopf und stellte fest, daß sie in der Eile nach der überraschenden Sprengung vergessen hatte, die oberen Knöpfe der Bluse zuzuknöpfen.
    »Ich muß mir das Fragment genauer ansehen«, erklärte sie mit Nachdruck und drehte sich um. »Sagen Sie Ihren Leuten, sie sollen weitersuchen.«
    »Na klar!« trompetete Hungerford, und sein vulgäres Lachen hallte von den Felsen wider.
    Als Catherine das Lager erreichte, hatte ihr Grabungs-Team aus amerikanischen Studenten und Freiwilli-gen bereits damit begonnen, die Gräben zu sichern, die durch Hungerfords Sprengung in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Unter dem Sonnendach, ihrem ›Eßzimmer‹, füllte der Koch Körbchen mit einhei-mischem Fladenbrot, zerteilte den Ziegenkäse und stellte die unterschiedlichen Becher für den starken, schwarzen Kaffee bereit, den alle mit größter Begeisterung tranken. In diesem Winter hatte Catherine eine gute Mannschaft. Das lag zum Teil an dem kühlen Wetter. Es war sehr viel schwieriger, in den drückend heißen Sommermonaten Leute zu finden, die bereit waren, bei einer Grabung mitzuarbeiten. Leider würden die meisten Weihnachten nach Hause fahren, und nur einige hatten ihre Rückkehr zugesagt. Auch das machte ihr Sorgen. Das neue Jahr würde kein gewöhnliches Jahr sein. Es war der Beginn eines neuen Jahrzehnts, eines neuen Jahrhunderts und sogar eines neuen Jahrtausends.
    Catherine fürchtete nicht zu Unrecht, daß sie gezwungen sein würde, die Ausgrabung vorübergehend abzubrechen. Genau das konnte sie sich aber nicht leisten, denn sie spürte mehr denn je, daß sie an einem Wendepunkt in ihrem Leben stand. Sie trat in das Zelt und legte das Fragment vorsichtig auf die Arbeitsplatte, um es genauer zu
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