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Die Probe (German Edition)

Die Probe (German Edition)

Titel: Die Probe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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zurückversetzt, die ihren unermesslichen Reichtum dezent durch erlesene und doch geschmackvolle Ausstattung ihrer Paläste zum Ausdruck brachten. Der stets auf Hochglanz polierte Mosaikboden aus seltenem italienischem Marmor, die dunkle Holztäfelung, die alten Meister an den Wänden, die fein gearbeitete Stuckatur an der strahlend weißen Decke, alles vom Feinsten, wie es die vornehme Kundschaft erwartete. Der Olymp, wie man das Zimmer 512 nannte, das für Partnersitzungen und Verhandlungen mit dem obersten Kundensegment reserviert war, befand sich am Ende eines langen Flurs mit schalldichten Besprechungszimmern.
    Sie war die Letzte, die den Prunksaal betrat. Sie nickte den ausschließlich männlichen Kollegen in der vornehmen Runde freundlich zu und schenkte dem Patriarchen von Moos, der die Sitzung leitete, ihr einnehmendstes Lächeln. Wie gewohnt wurde ihr Auftritt von beifälligem Gemurmel und unverhüllt bewundernden Blicken begleitet. Mit ihrer schlanken Gestalt, den perfekten Rundungen an den richtigen Stellen, dem ausdrucksvollen Gesicht mit den vollen Lippen, dem sanft auf die Schulter fallenden, kastanienbraunen Haar, dem schwarzen Designerkleid und den extravaganten Jimmy Choos an den Füssen machte sie jedem Supermodel mühelos Konkurrenz, und das wusste sie. Gerade als sie sich setzte, schlug die nahe Turmuhr des Fraumünsters: halb fünf, man konnte pünktlich beginnen. Dr. Albrecht von Moos schätzte Pünktlichkeit mindestens ebenso wie Genauigkeit und vor allem absolute Verschwiegenheit. Diskretion bis zur Selbstaufgabe war ebenso bedeutsam wie selbstverständlich für ein Bankhaus mit zweihundertjähriger Tradition und handverlesenen, schwerreichen Kunden aus aller Welt.
    Das Ritual begann mit dem zehnminütigen Monolog des Seniorpartners zur Weltlage und zum Allgemeinzustand des Hauses, dem die Anwesenden mit gebührender Aufmerksamkeit zuzuhören hatten. Dann folgte der unangenehme Teil. Von jedem Berater erwartete der Chef eine kurze, aber präzise Zusammenfassung seiner Tätigkeit in der vergangenen Woche. Besonderes Gewicht legte er auf Kontakte zu Kunden und vor allem auf Prospects, potenzielle Neukunden, deren Millionen nur darauf warteten, von seiner Bank gewinnbringend verwaltet zu werden. Es wurde erwartet, dass dieser Bericht, der auch die paar wenigen wichtigen Kennzahlen wie Netto-Neugeldzufluss und die durchschnittliche Gewinnmarge enthalten musste, in freier Rede vorgetragen wurde. Für Dr. von Moos war klar, dass ein Vermögensverwalter, der die Bezeichnung verdiente, seine Kundendossiers jederzeit im Kopf hatte. Undenkbar, dass jemand einen Laptop mit den Daten in die Sitzung brachte. Schriftliche Unterlagen, auf die man hin und wieder einen Blick werfen durfte, wurden eben noch widerwillig toleriert. Francesca versprühte reichlich Charme und Witz, um über ihre magere Woche hinwegzutäuschen, mit zweifelhaftem Erfolg, wie ihr das säuerliche Lächeln des Chefs bestätigte. Noch ein paar solche Berichte, und sie konnte den Traum des ersten weiblichen Partners in der langen Geschichte der Bank endgültig begraben.
    »Herr Meier, bitte.« Ihr ungeliebter Sitznachbar räusperte sich umständlich, setzte eine ernsthafteste Miene auf, als stünde er im Begriff, das beste Resultat aller Zeiten zu verkünden und sagte, jedes Wort betonend:
    »Vidal hat angebissen.« Er blickte triumphierend in die Runde, in höchstem Maße befriedigt von der Reaktion des Seniorpartners, der die Lesebrille hochgeschoben hatte und ihn nun unverwandt anstarrte.
    »Monsieur Vidal hat sich gemeldet, Louis Vidal?«
    »Derselbe, das heißt, sein Büro. Monsieur Vidal wird nächste Woche in Zürich sein und hat seinen Besuch angekündigt.« Im ehrwürdigen Saal wurde es unruhig. Die Herren begannen aufgeregt zu tuscheln und Meier 2 zerfloss vor Stolz, jedenfalls schwitzte er heftig und fächelte sich Luft zu mit seinen Unterlagen. Francesca verstand die Aufregung der Kollegen nicht wirklich. Klar, Vidal musste über ein immenses Vermögen verfügen, und man war seit Jahren daran, ihn als Kunden zu gewinnen, aber traf dies nicht auf alle ihre Kunden zu? Die Bank interessierte sich grundsätzlich nur für UHNWI, Ultra High Net Worth Individuals, oder anders gesagt, reiche Säcke mit mindestens fünfzig Millionen Dollar Anlagevolumen. Sie gaben sich nicht mit Kleingemüse wie simplen Möchtegerns ab, die mit Mühe eine oder zehn Millionen auf dem Konto hatten. Was machte Vidal so besonders? Sie unterdrückte ihre

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