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Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)

Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Titus Müller
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kaum etwas eingebüßt, aber der Rücken hatte sich ein wenig gekrümmt, und die gesenkten Augenlider ließen ihn müde erscheinen.
    Der Vater war durch den Tempel vor den Blicken der Menge verborgen. Er überwachte auf dem rückseitigen, nach Osten gewandten Wall der Burg den Himmel und würde ein Zeichen geben, sobald die Sonne sich zeigte. Dann würde Alena das erste Blut des Tages vergießen.
    Der Hahn, dessen Flügel sie unter seinen Leib gebogen hatte und dort mit den Beinen zusammenhielt, verdrehte unruhig die braunen Äuglein, zwinkerte mit dünner Haut darüber. Alena spürte seinen warmen Körper an ihrer Brust, sie roch den Duft des Stalls, der aus dem Gefieder aufstieg, sah den leicht gebogenen Schnabel zum Himmel rucken. Würde er ihn aufreißen und krähen, wenn das Sonnenlicht sich zeigte? Ein letztes Mal krähen?
    Ihre Rechte umklammerte den Griff des Beils. »Verabschiede dich vom Leben, stolzer Hahn«, raunte sie. »Du wirst in wenigen Augenblicken sterben müssen.«
    Und mitten hinein in die erwartungsvolle Stille dröhnte ein Horn. Das Zeichen. Die Priester nickten ihr zu.
    Sorgfältig umklammerte sie die Flügelspitzen und die Beine des Hahns, neigte ihn nach vorn, um seinen Kopf seitlich auf den Altar zu legen. Da begann der Hahn zu kreischen. Er zeigte seine kleine Zunge und zeterte. Ein ungewohntes Geräusch: Immer nur dann war es zu hörengewesen, wenn ein Bussard über der Burg kreiste und der Hahn die Hennen warnte. Ein kurzer Schrei dieser Art genügte, und unvermittelt war alles Federvieh vom Hof gefegt. Nun aber kreischte der Hahn mit hoher, gellender Stimme ohne Unterbrechung, spitze Schreie wie Messerklingen. Es betäubte Alenas Sinne. In Todesangst begann das Tier zu kämpfen, zerkratzte mit den Krallen ihren Bauch, ruckte mit den Flügeln, um sich zu befreien.
    Sie hob das Beil und schlug zu. Schweigen.
    Der Kopf lag abgetrennt auf dem Altar, die braunen Äuglein aufgerissen. Blut schoß aus dem Hals des Hahns. Und doch war der Kampf nicht zu Ende: Der ganze Körper zappelte, wand sich, zuckte in ihrer Hand mit schier unheimlicher Kraft. Sie verlor die Flügel aus ihrem Griff, und der kopflose Hahn erhob sich flatternd in die Höhe. Verzweifelt zog sie ihn an den Beinen herunter, versuchte, ihn zu packen. Warme Spritzer landeten auf ihren Wangen, auf den Lippen, dem Kleid. Der Geköpfte kämpfte gegen ihre Hände, die ihn auf den Altar herunterdrückten. Es erschien ihr wie Stunden, bis die Kräfte des sterbenden Tiers nachließen, bis es endlich erlahmte und still liegenblieb.
    Ein Raunen von Gebeten erhob sich in der Menschenmenge, daß Alena die Ohren davon rauschten. Sie taumelte zurück, machte Platz für die Priester, die die bronzenen Opfermesser gezückt hatten und den Blutstrom nicht abreißen ließen: Ziegen starben, Hühner, Gänse. Eine Schlange von Männern wartete darauf, den Priestern Opfertiere zu übergeben. Als ein Lamm auf den Altar gehoben wurde, schloß Alena die Augen. Sie rieb die klebrigen, stumpf nach Blut und Hühnerkot riechenden Finger aneinander.
    Wenig später sah sie das Lamm mit rot verfärbtem Fell neben dem Altar liegen. Die Körper der geopferten Tiere bildeten Reihen auf beiden Seiten. Endlich war es ruhig, kein ängstliches Blöken oder Kreischen hallte mehr durch die Burg. Auch das Rufen und Beten der Menge verstummte. Man sah hinauf zum Tempel.
    Wie zuvor standen die Priester paarweise zu Seiten des Altars. Leise strich der Wind über ihre Mäntel; roter Lebenssaft tropfte noch vom Mantelsaum zu Boden und von den bronzenen Opfermessern herab, die sie in den Händen hielten.
    Das Volk erstarrte, es spürte wohl, was nun kommen würde. Fürsten mußten darunter sein, Krieger, Mitglieder aller Stämme – sie schwiegen in Ehrfurcht, während der Vater aus dem Tempel trat, in der Hand das goldene Trinkhorn. Er schritt ruhig an Alena vorüber, hielt den Kopf so würdevoll erhoben, als hätte er soeben im Tempel noch einmal Angesicht zu Angesicht vor Svarožić gestanden, dem Geber der Gesetze, dem Feuerfürsten, der Verderben schleuderte und Fruchtbarkeit pflanzte, der Kriege mit seinem Hauch entschied und die Welt mit drei wachsamen Augenpaaren hütete. Die Sonne folgte seinem Befehl und empfing ihren Glanz von ihm, den Toten wies er ihren Platz in der Unterwelt.
    Mit emporgerecktem Arm – das schwarze Leinen des Umhangs hing weit herab – schöpfte Nevopor Blut vom Altar in das Horn. Er verharrte einige Augenblicke mit dem Gefäß vor der Brust.
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