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Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)

Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Titus Müller
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Kein Vogel schrie, kein Fuß scharrte. Nicht einmal die Kinder brabbelten mehr. Es herrschte absolute Stille. Über und über war das Horn mit feinen Linien verziert. Blut lief daran herunter. Vater setzte es an den Mund und trank. Als er es wieder heruntergenommen hatte, wurde er leichenblaß. Lange stand er so, starrte blind vor sich hin, wankte. Schließlich öffnete er den Mund und krächzte leise: »Ein Menschenopfer.«
    Bis in die hintersten Reihen brandete die Nachricht. Wie viele Jahre war es her, daß Svarožić ein Menschenopfer gefordert hatte? Ein Mensch sollte sterben! Das Blut der Tiere genügte nicht.
    Miesko hatte seinen Platz verlassen und war an den Vater herangetreten. Er füllte ihm das goldene Horn aus einem Krug mit Honigwein. Erneut setzte Vater das Horn an denMund und trank in langen Zügen. Er hob es hoch über den Kopf zum Trinken, holte nicht ein einziges Mal Luft, und als er es von den Lippen nahm und umkehrte, ohne daß ein Tropfen herausfiel, schrie die Menge in lautem Jubel. Es war ein gutes Zeichen, wenn das Horn in einem Anlauf geleert wurde.
    Vater zog sich ohne Eile hinter den Tempel zurück. Er kehrte wieder mit der Weißen am Zügel. Dunkle Hufe pochten erhaben auf den Boden, Haare wehten wie Pulverschnee aus der Mähne auf. Muskeln spannten sich unter dem makellosen Fell. So dünn und seidig war die Haut des Tiers, daß sich auf der Brust und an den Beinen Adern hervorwölbten, ineinandergeschlungene Pfade, Netze der Kraft. Die Nüstern der Stute trugen eine hautfarbene Zeichnung, ohne daß der Fleck die Schönheit des Pferdes zerstörte: Er ließ es klug erscheinen. Wimpern schwebten über schwarzen Kugelaugen.
    Die Stute ließ ein Schnauben über den Burghof hallen wie einen Gruß. Tausende Stimmen gingen in ein Raunen über, in ehrfürchtiges Flüstern und Zischen. Das Pferd Svarožićs. Es würde, es mußte das Orakel bestätigen.
    Die Priester rammten zwei Reihen von Speeren in den Boden, so, daß sie schräg hervorschauten und ihre Enden wenige Handbreit über dem Boden schwebten. Dort, wo sie sich kreuzten, bildeten sie Tore; drei niedrige Hindernisse. Die Hufe der Weißen näherten sich dem ersten Tor. Alena heftete ihren Blick an den rechten Huf. Da, die Stute hob das Bein und trat über die erste Stange. Ein gutes Zeichen.
    War das Schweiß auf der Stirn des Vaters? Er sah nicht hinab. Vater konnte es hören, welcher Huf zuerst auftrat. Er hörte es daran, ob die Menge still blieb oder in ängstliches Jammern ausbrach. Wieder der rechte Huf.
    Vor dem dritten Speer verlangsamte der Hochpriester die Schritte. Alena sah den Vater am Zügel ziehen, als wollte er das Pferd zur Seite lenken. Der linke Huf: Erhatte sich leicht erhoben, fiel zurück auf den Boden. Die Stute hob den Kopf höher, wieherte leise. Sie stand vor dem letzten Speer. Sie mußte entscheiden, mit welchem Huf sie hinübertrat.
    In der Menge begannen viele zu beten. Ein Ruck ging durch Vaters Arm. Er zog die Stute voran. Und schließlich hob sie ihr rechtes Bein und trat über das letzte Tor.
    Jubel wollte ausbrechen, stockte, erstickte wieder. Der Schrecken und das Staunen über das Orakel kämpften miteinander. Ein Mensch sollte sterben.
    Zunächst schien es, als wollte Vater mit der Stute zum Stall zurückkehren. Dann aber blieb er vor dem Altar stehen und senkte seinen Blick in Alenas Gesicht. Sie erschauderte. Was hatte das zu bedeuten? Vater wendete sich zur Menge um. »Das Heer der Franken ist über die Elbe gekommen. Seit Wochen verwüsten unsere Feinde slawisches Land. Svarožić sieht es genau, und er hat unsere Hilferufe gehört. Einen großen Tod fordert er, bevor er uns durch seine Kraft zu Rächern macht. Die Nawyša Devka hat heute das Opfer eröffnet – das Wohlwollen des Dreiköpfigen liegt auf ihr. Und so soll sie es sein, die den erwählt, der sterben wird. Es wird ein stattlicher Franke sein; in vier Wochen findet er auf diesem Altar den Tod.« Vater wies auf die blutbefleckte Felsplatte. Schließlich hob er den Arm zum Himmel hinauf: »Feiert das Orakel des Lichtbringers! Erfreut Svarožić, den Feuergott, indem ihr die Trinkhörner mit fröhlichem Lachen leert! Er wird uns den Sieg schenken.«
    »Du schickst mich zu den Franken?« flüsterte Alena fassungslos. Der Vater ging an ihr vorüber, ohne sie anzusehen.
     
    Gelächter und Musik erfüllten die Luft. Kinderkreischen dazwischen: Halbwüchsige hatten sich zusammengerottet, um in Ballspielen ihre Kräfte zu messen: Redarier gegen
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